Mehr Technik bedeutet mehr Überwachung und mehr Totalitarismus. Diese Gleichung wird heute als selbstverständlich betrachtet. Dazu beigetragen haben die klassischen Zukunfts-Albtraumromane wie George Orwells «1984» und Aldous Huxleys «Schöne Neue Welt». Auch die aktuellen Schriftsteller hauen in diese Kerbe. In Dave Eggers «Circle» beispielsweise entwickelt sich ein IT-Gigant mit sehr grosser Ähnlichkeit zu Google zu einem Überwachungsmonster.
Aber stimmt diese Gleichung überhaupt? Ist die totale Überwachung erst im digitalen Zeitalter möglich geworden? Nicht, wenn man das neuste Buch des Historikers Adam Zamoyski liest. Der in London lebende und lehrende Pole hat mit «1812» einen weltweiten Bestseller geschrieben, in dem er den Russlandfeldzug Napoleons beschreibt. In «Phantom Terror» zeigt er auf, wie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine paranoide und weitgehend unbegründete Angst vor Revolutionen und Jakobinern Europa in einen Polizeistaat der übelsten Art verwandelt hat.
Die französische Revolution war für den europäischen Adel ein Schock. Plötzlich wurde sichtbar, dass eine Gesellschaftsordnung möglich geworden war, eine Gesellschaftsordnung, die nicht gottgeben war, sondern auf Leistung und Freiheit beruhte. Der Adel reagierte darauf mit Panik und roher Gewalt. Polizei und Armee wurden massiv ausgebaut und gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt.
Besonders hervorgetan hat sich dabei ein gewisser Klemens Wenzel Lothar von Metternich-Winneburg-Beilstein, besser bekannt als Fürst Metternich. Der in Koblenz geborene Adlige beherrschte während Jahrzehnten den österreichischen Kaiserhof und bestimmte damit die reaktionäre Politik in den europäischen Staaten.
Metternich war geradezu zwanghaft paranoid. Überall witterte er Verschwörungen – bei Freimaurern, ehemaligen Offizieren, ja selbst bei deutschen Burschenschaften und dem Turnvater Jahn. Er war zudem überzeugt, dass alle vermeintlich revolutionären Machenschaften von einem Comité Directeur in Paris ausgeheckt und koordiniert wurden.
Um diese revolutionären Machenschaften frühzeitig aufzudecken, kontrollierte Metternich den gesamten Briefverkehr in Europa. Heerscharen von Kontrolleuren waren damit beschäftigen, Briefe zu lesen und Geheimcodes und Geheimschriften zu entziffern. Es gab in dieser Zeit kaum einen Brief in Europa, der nicht beschnüffelt wurde.
«Die Briefe wurden in allen wichtigen Poststellen des Reiches kontrolliert, in den Häfen und den angesagten Bädern wie Karlsbad, Marienbad und Töplitz», schreibt Zamoyski. «Private Briefe wurden ohne Rücksicht auf Namen geöffnet.»
Es gab immer wieder Anlässe, die Überwachung noch weiter zu verschärfen. Im März 1819 etwa wurde der reaktionäre Schriftsteller August von Kotzebue in der Nähe von Mannheim von einem Terroristen ermordet. Es handelte sich dabei um einen labilen Einzeltäter. Für Metternich jedoch war es der unumstössliche Beweis einer jakobinischen Verschwörung.
Nicht nur Briefe wurden geöffnet, ganze Heerscharen von Spionen wurden eingesetzt. «Jeder Portier eines öffentlichen Hauses ist ein Spion», schrieb ein amerikanischer Geschäftsmann entnervt aus Wien nach Hause. Auch Prostituierte, Hausangestellte und ehemalige Soldaten verdienten sich Informanten der politischen Polizei ein Zubrot.
Andere betätigten sich als «agent provocateur» und versuchten, Soldaten und Arbeiter zu regierungsfeindlichen Äusserungen zu bewegen. Das hatte groteske Folgen: In den Wiener Kaffeehäusern sassen die Menschen stundenlang herum und sprachen kein Wort mehr.
Sie hatten auch allen Grund dazu. Selbst harmlose Äusserungen hatten härteste Folgen. Die Polizei war allmächtig, ihre Willkür grenzenlos. Ein gewisser Karl Freiherr von Glave-Kobielski wurde 21 Jahre lang ohne Anklage eingesperrt. Guantanomo lässt grüssen.
Die totale Überwachung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war nicht nur grausam, sie war auch sinnlos, ja gar kontraproduktiv: «In den am meisten repressiven Staaten führte dies dazu, dass sich die jungen Generationen vom Staat entfremdeten. Dadurch wurde die Saat gestreut für den realen Terrorismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts», schreibt Zamoyski.
Fazit: Überwachung und Totalitarismus sind nicht primär ein technisches Problem. Politische Dummheit ist dafür verantwortlich, damals wie heute.
Darf ich jetzt auch bei Ueli Maurer einen Trojaner installieren? Denn: Wer nichts zu verbergen hat, hat doch nichts zu befürchten, wie er und seinesgleichen nie müde werden zu behaupten.