Auf den ersten Blick sieht es nach einer satten Mehrheit aus: 58 Prozent der befragten Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sehen hauptsächlich Vorteile in den bilateralen Verträgen mit der EU. Doch auf den zweiten Blick trübt sich das Bild ein. Die Zustimmung ist im Vergleich zum Vorjahr um 6 Prozentpunkte gesunken.
«Die ambivalente Haltung wächst», schreibt das Forschungsinstitut GfS Bern in seinem Kurzbericht zur neusten Europa-Umfrage, die es im Auftrag des Verbands Interpharma im Januar durchgeführt und nun veröffentlicht hat. Das ist eine Wende, denn seit 2020 ist die Vorteilssicht auf die Bilateralen stets gestiegen. Nun aber wächst jene Gruppe der Befragten, die in den Bilateralen sowohl Vor- als auch Nachteile erkennen, von 14 auf 20 Prozent. Ebenfalls 20 Prozent der Befragten sehen in den Bilateralen nur oder vorwiegend Nachteile. Das ist plus 1 Prozent seit Juli 2024.
Bemerkenswert: Ausgerechnet bei den Grünliberalen, die sich als klar proeuropäische Kraft positioniert haben, sackt die Zustimmung zu den bestehenden Bilateralen von rekordhohen 89 Prozent auf 77 Prozent ab (-12 Prozentpunkte). Bei der Mitte beträgt der Rückgang 7 Prozentpunkte auf noch 65 Prozent mit vorteilhafter Einschätzung der Bilateralen.
Den grössten Einbruch bei den Zustimmungswerten von 76 Prozent auf gerade noch 60 Prozent verzeichnet aber ausgerechnet die Partei von Aussenminister Ignazio Cassis, die FDP. Auch hier wächst vor allem die Gruppe, die sowohl Vor- als auch Nachteile sieht: Sie nimmt von 16 auf 30 Prozent zu. Auch bei den Parteiungebundenen hat die Gruppe mit zwiespältiger Sicht auf die Bilateralen stark zugelegt, um 26 Prozentpunkte auf 39 Prozent.
Laut GfS Bern erinnert das Muster an die Zeit vor der Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative: Damals sei gerade in diesem Lager kurzfristig der Eindruck entstanden, «dass ein Verzicht auf die Bilateralen möglich wäre». Worauf FDP-nahe Personen «einen kritischen Entscheid in Bezug auf die Bilateralen» getroffen hätten. Zur Erinnerung: Die EU-kritische Initiative wurde im Februar 2014 angenommen.
Schon lange sieht die SVP-Wählerschaft am wenigsten Vorteile in den bilateralen Verträgen. Doch auch hier sank die Zustimmung seit Juli 2024 noch einmal von 45 auf 32 Prozent.
An Sympathien haben die Bilateralen derweil bei Rot-Grün gewonnen: Von der SP-Basis sehen 86 Prozent nur oder eher Vorteile in den Verträgen (+8 Prozentpunkte). Bei den Grünen sind es 84 Prozent (+10 Prozentpunkte).
Die zunehmende Ambivalenz bei der Einschätzung der bilateralen Verträge ist laut GfS Bern «womöglich Ausdruck der sich zuspitzenden politischen Diskussion» über das künftige Verhältnis der Schweiz zur EU. Im Dezember hat der Bundesrat die Verhandlungen mit Brüssel abgeschlossen, im Juni will er die Verträge in die Vernehmlassung schicken. Es geht um die Rechtsübernahme neuer EU-Gesetze im Bereich der Bilateralen, um die Streitschlichtung mit Brüssel sowie um je ein neues Strom-, Gesundheits- und Lebensmittelabkommen.
Mit dem Paket der neuen EU-Verträge, den sogenannten Bilateralen III, sind laut Umfrage 64 Prozent «voll oder eher einverstanden». Das ist zwar eine solide Mehrheit. Aber es sind 7 Prozent weniger als im Juli 2024. Es zeige sich, «dass die kritische Sichtweise auf die Bilateralen an Präsenz gewinnt und auch Anklang findet», hält GfS Bern fest.
Das zeigt sich auch in einer anderen Fragestellung. Könnten die befragten Bürgerinnen und Bürger in einer Abstimmung zwischen verschiedenen Szenarien auswählen, zögen sie eine andere Variante den Bilateralen und dem neuen Vertragspaket vor: Der Beitritt zum EWR mit Norwegen, Island und Liechtenstein erhält 52 Prozent Zustimmung und ist laut GfS Bern die einzige mehrheitsfähige Alternative. Sowohl das Szenario weiter wie bisher mit den alten Bilateralen als auch die Bilateralen III kommen auf bloss 47 Prozent. Seit Juli 2024 haben die Bilateralen III 8 Prozentpunkte verloren.
Mit etwas Abstand folgt die Variante Freihandel inklusive Landwirtschaft nach einer Kündigung der Bilateralen. Dieses Szenario lag vor drei Jahren mit über 60 Prozent an der Spitze, kommt nun aber noch auf 39 Prozent. Chancenlos sind weiterhin ein Alleingang ohne Bilaterale (19 Prozent) und ein EU-Beitritt (16 Prozent). (aargauerzeitung.ch)