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Trauerurlaub nach Fehlgeburt – Ständerat diskutiert über Tabuthema

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In der Schweiz erleben pro Jahr über 20'000 Frauen eine Fehlgeburt. Bild: labs.openai.com/watson

Trauerurlaub nach Fehlgeburt – Ständerat diskutiert heute über Tabuthema

Sollten Paare nach einer Tot- oder Fehlgeburt einen Trauerurlaub nehmen können? Darüber berät heute der Ständerat. Die Leiterin der Fachstelle Kindsverlust erklärt, was eine Fehl- oder Totgeburt bei Betroffenen auslöst.
31.05.2023, 05:2131.05.2023, 07:24
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Der Ständerat berät heute darüber, ob Paare nach einer Tot- oder Fehlgeburt künftig einen bis zu drei Tage langen, bezahlten Trauerurlaub nehmen können. Stand heute können betroffene Personen einen solchen Trauerurlaub zwar beim Arbeitgeber einfordern, gesetzlich verankert und somit immer garantiert ist er aber nicht. Anspruch auf Mutterschaftsurlaub haben Frauen, die das Kind nach der 23. Schwangerschaftswoche verlieren.

Das Thema Fehl- und Totgeburt findet im öffentlichen Diskurs oft keinen Platz. watson hat deshalb mit Anna Margareta Neff Seitz gesprochen. Sie ist Leiterin der Fachstelle Kindsverlust, Hebamme und Trauerbegleiterin.

Oft verschwiegen

Neff Seitz beschäftigt sich täglich mit dem Thema Tot- und Fehlgeburt und weiss, warum es weitgehend tabuisiert wird: «In den vergangenen Jahren wurde zwar vermehrt eine Debatte über das Sterben an sich geführt, aber Fehl- und Totgeburten wurden aus der Diskussion ausgeschlossen. Die Vorstellung, dass ein Kind so früh stirbt, löst in den Menschen sehr starke Gefühle aus. Es scheint, als können wir diese Gefühle und die Vorstellung fast nicht aushalten.»

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Anna Margareta Neff Seitz ist Leiterin der Fachstelle Kindsverlust.Bild: zVg

«Die Gesellschaft hat eine klare Vorstellung vom Sterben. Man kommt auf die Welt, wird erwachsen, wird älter und dann stirbt man später im hohen Alter. Wenn man früher stirbt, wird es schwierig, das nachzuvollziehen», elaboriert sie weiter.

Neff Seitz schildert, dass vor allem die eigene Betroffenheit hellhörig mache. Sie erklärt: «Viele Menschen umgehen dieses Thema lange und setzen sich nicht damit auseinander, bis sie dann einmal selbst betroffen sind.»

Begriffserklärung
Wenn eine Geburt vor dem dritten Monat (12. Schwangerschaftswoche) endet, spricht man von einer «frühen» Fehlgeburt, einem Frühabort. Die «späten» Fehlgeburten sind jene zwischen der 12. und 22. Schwangerschaftswoche. Danach spricht man von einer Totgeburt.

Aufklärung des Umfelds

Neff Seitz sieht noch eine andere Problematik, welche die Tabuisierung verstärkt: «Die werdenden Eltern erzählen dem Umfeld in den ersten drei Monaten oftmals nichts von der Schwangerschaft, weil das Risiko für eine Fehlgeburt in dieser Zeit erhöht ist. Wenn es tatsächlich zu einer Fehlgeburt kommt, können die Eltern das Umfeld auch nicht miteinbeziehen, da sie nie kommuniziert haben, dass sie ein Kind erwarten.»

«Wenn man nie gesagt hat: ‹Ich bin schwanger›, ist es eine grosse Hürde, zu sagen: ‹Das Kind ist gestorben.›»
Anna Margareta Neff Seitz

«Für die Verarbeitung einer Fehlgeburt wäre es sehr hilfreich, wenn man die nächsten Angehörigen und Freunde als Stütze hätte. Doch wenn man nie gesagt hat: ‹Ich bin schwanger›, ist es eine grosse Hürde, zu sagen: ‹Das Kind ist gestorben›», erklärt Neff Seitz.

Doch eigentlich seien die Paare mit ihrem Leid nicht allein: «Wir müssen als Gesellschaft auch verstehen, dass Fehlgeburten, vor allem in den ersten drei Monaten, biologisch gesehen etwas ‹normales› sind. In der Schweiz haben 20'000 Frauen pro Jahr eine Fehlgeburt», so Neff Seitz.

So gehen Paare mit einer Fehlgeburt um

Viele Menschen müssen also eine Fehlgeburt verarbeiten und einen Weg finden, damit umzugehen. Was schildern die Paare, die die Fachstelle aufsuchen? Neff Seitz sagt: «Viele Paare fühlen sich isoliert. Vor allem die Mütter. In ihnen macht sich ein Gefühl breit, das sie nicht einordnen können. Sie waren schwanger und auf dem Weg, Mutter zu werden, und dann ist das Kind plötzlich nicht mehr da. Sie finden sich in ihrem Körper und Gefühlen nicht mehr zurecht.»

So fühlt sich eine frühe Fehlgeburt an

Video: watson/lea bloch

Sie ergänzt: «Es kommen Fragen auf, wie: ‹Was bin ich jetzt? Wurde ich Mutter oder nicht?› Das kann dazu führen, dass sie selbst nicht mehr wissen, was gerade geschieht.»

Sie fährt fort: «Wenn eine Frau schwanger wird, ist die Spur eines sich entwickelnden Kindes schon gelegt. Und diese Spur bleibt auch, wenn das Kind früh gestorben ist. Aber das Umfeld sieht das alles nicht, denn es war nicht Teil des Prozesses. Von aussen wird nicht anerkannt, dass sie Mutter geworden ist. Das verstärkt das Gefühl der Isolation.»

«Die Männer können Fehlgeburten oft besser verarbeiten, machen sich aber natürlich gleichzeitig Sorgen um die Frau.»
Anna Margareta Neff Seitz

Der Partner nimmt laut Neff Seitz eine andere Rolle ein: «Der Mann hingegen weiss zwar, dass die Frau schwanger war, aber war in den ersten Monaten noch nicht so stark in den Prozess involviert. Die Männer können das oft besser verarbeiten, machen sich aber natürlich gleichzeitig Sorgen um die Frau und sagen ihr auch, dass sie nach vorn schauen sollten.»

Für die Frauen sei das schwierig, denn körperlich und seelisch hätten sie einen Prozess mit vielschichtigen Gefühlen erlebt, so Neff Seitz. Sie sagt: «Es ist wichtig, wieder Orientierung zu finden. Das benötigt Zeit.»

Unwissen über Unterstützung

Nebst der Einführung der Trauertage für die Paare und der geforderten Kostenbefreiung sieht Neff Seitz noch einen anderen Bereich, in dem es Aufklärungspotenzial gäbe. Sie sagt: «Die Eltern hätten eigentlich Anspruch auf eine Hebamme, die sie während der Schwangerschaft und auch nach einer späten Fehlgeburt unterstützt. Das wissen viele Frauen nicht, denn oftmals konsultieren sie die Hebammen erst nach der Geburt oder wenn die Schwangerschaft schon fortgeschritten ist.»

Sie schliesst: «Ich bin überzeugt, diesen Frauen würde eine Unterstützung durch eine Hebamme helfen, denn auch wenn das Kind wieder geht, kommt es trotzdem zu einer ‹kleinen› Geburt und einem darauffolgenden Wochenbett. Die Hebamme kann einer Frau helfen, dieses Geschehen besser einzuordnen.»

Ebenfalls zur Unterstützung beitragen könnte ein weiteres Geschäft, welches heute im Parlament besprochen wird: Die ständerätliche Gesundheitskommission fordert, dass die Leistungen während einer Schwangerschaft und bei einer frühen Fehlgeburt, also schon vor der 13. Woche, von der Kostenbeteiligung befreit werden sollen.

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98 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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abcdefghij
31.05.2023 06:26registriert Mai 2018
Ich ging direkt vom Frauenarzt und der Diagnose Fehlgeburt in der 6. SSW wieder blutend mit Krämpfen ins Büro, weil mein FA eine Krankschreibung nicht für nötig empfand… das werde ich nie vergessen (FA wurde gewechselt, ja).
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Loone
31.05.2023 05:53registriert August 2015
Kostenbeteiligung vor der 13. Woche muss unbedingt umgesetzt werden!
Nach geltendem Recht (Bundesgesetz über die Krankenversicherung vom 18. März 1994, KVG) wird eine Schwangerschaft, die vor der 13. Woche endet, als Krankheit betrachtet, wodurch die übliche Kostenübernahme gilt. Folglich sind die Kosten für Arztbesuche, medizinische Analysen, Arzneimittel und die nötigen Eingriffe zur Entnahme des Embryos oder des toten Fötus bis zum Erreichen der Franchise oder des Selbstbehalts von der betroffenen Frau zu tragen.
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Pafeld
31.05.2023 06:11registriert August 2014
Ich hatte selbst einen solchen Fall vor kurzem im persönlichen Umfeld und es braucht ganz dringend bessere gesetzliche Regulierungen diesbezüglich. Was der Arbeitgeber in dem Fall alles getan hat, um das schlecht definierte, gesetzliche "Minimum" abzutasten, würde ausreichen, um einen regelrechten Shitstorm auszulösen.
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