Der Weg zum Ausstellungsraum ist mit Popcorn ausgelegt. Natürlich liegt es unter Glas, aber man trippelt trotzdem ganz vorsichtig drüber.
Der Teppich ist rot, ein paar weisse Stelen stehen zwischen den zehn Kleinstkinos, in denen hintereinander ein- bis dreiminütige Ausschnitte aus 111 Schweizer Filmen gezeigt werden. Der Kurator Walter Keller hat sich sagenhafte 300 Streifen angeschaut und dann aus dieser Flut von Eindrücken diejenigen Szenen ausgewählt, die «nach Schweiz stinken», wie er es mit den Worten Dürrenmatts ausdrückte.
«Objektivierend subjektiv» sei er dabei vorgegangen, meinte der Kurator, der sehr gesund wirkte und kein bisschen bleich war, so wie man es von einem Gesicht nach einem 300-Filme-Marathon eigentlich erwartet hätte. Er meinte damit, dass er beim Graben in dieser Fundgrube lokaler Mentalitäten nicht nach filmwissenschaftlichen Richtlinien verfahren sei, sondern nach kulturhistorischen. Er hat also «das Schweizerische» aufzustöbern versucht, die Kultur-Häppchen, die zwischen 1920 und heute in diese helvetischen Filme gepurzelt sind und von der Schweiz und ihren Bewohnern erzählen.
Die Vorführräume, die wie intime Mini-Heimkinos anmuten, sind nach Themen geordnet, die Chronologie der Filme wurde dabei wild durcheinander geworfen.
Das Kino mit dem Titel «Liebe» zum Beispiel zeigt eine Sequenz aus Sigfrit Steiners «Der doppelte Matthias und seine Töchter» (1941): Ein städtischer Poet macht einer dieser kräftigen Matthias-Töchtern den Hof. Er schenkt ihr ein Gedicht, das mit den Worten beginnt: «Wenn I Dini Auge gseh und Dini prächtig Gschtalt ...» Auch der Rest ist keine lyrische Hochleistung, doch für die Bauersfrau, die die Zeilen laut und sachlich vorliest, ist diese Art der Zuneigung bereits unerhört umständlich. Als sie also das Liebespoem zu Ende zitiert hat, besticht sie mit ihrer herrlich einfachen, bäuerlich-pragmatischen Antwort: «Sägs doch eifach, wenn du zu mir cho wötsch.»
Auch die Julia aus Hans Trommers Verfilmung von «Romeo und Julia auf dem Dorfe» (1941) ist sehr direkt zu ihrem Romeo, nachdem die beiden im Namen ihrer unbändigen Liebe heimlich Ringe ausgetauscht haben: «Schwör mir, dass es mit mir tuesch!»
Im Kinosälchen, das den Glauben thematisiert, läuft Fischers «Brandnacht» (1992): Eine Familie sitzt an einem rustikalen Bauerntisch, irgendwo im Emmental, sie beten, dann herrscht Sprechverbot. Einzig die Grossmutter darf das Sprüchlein auf dem Abreisskalender vorlesen, das der Sohn ihr wichtig hinstreckt. Sie setzt die Brille auf: «Also bist du nicht mehr Sklave, sondern Sohn; wenn aber Sohn, so auch Erbe durch Gott. Galater 4.7.» Aha. Also aus dem Brief des Paulus an die Galater. Dann bleibt dieser katechetische Fetzen, dessen Bedeutung eigentlich niemand an diesem Tisch versteht, noch ein bisschen in der dicken Luft hängen. Schnitt.
Einen Ausschnitt aus Friedrich Genhardts Stummfilm «Wilhelm Tell» (1921) wird im Vorführraum mit dem Titel «Herkunft – Mythos» gezeigt. Dieser Tell ist sehr kräftig, fast schon ein bisschen dicklich, und nachdem er seinem Sohn den Apfel vom Kopf geschossen hat, fällt der Nationalheld sofort in Ohnmacht und erwacht erst wieder, als klein Walti freudig um ihn herumtänzelt und mit dem durchbohrten Apfel vor der väterlichen Nase herumwedelt. Dramatische Musik.
Dann fragt Gessler seinen eidgenössischen Feind, warum er denn einen zweiten Pfeil bereit gelegt hätte. Tell: «Das ist so üblich bei den Schützen.» Dramatische Musik. Kein Text, aber Gessler scheint etwas zu sagen. Tell kriegt einen nicht genau einzuordnenden Wutanfall.
Klar ist dagegen: Diese Ausstellung gibt der Schweiz eine ganz neue Plattform, sich zu zeigen: «Das Schweizerische» lauert überall in diesen fein ausgesuchten Filmszenen, die jede für sich eine kleine Geschichte erzählt: manchmal rührselig, manchmal bedrückend und oft auch sehr lustig.