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Gesundheit

ADHS bei Erwachsenen: Mann erzählt, wie die Diagnose sein Leben verändert

Max (55) fragt sich jahrelang, was mit ihm nicht stimmt – ADS-Diagnose schafft Klarheit

Depressionen sind eine häufige Begleiterkrankung von AD(H)S. Oftmals erhalten Betroffene ihre Diagnose erst aufgrund sekundärer Erkrankungen. So erging es auch Max. Als bei ihm ADS diagnostiziert wurde, konnte er endlich gegen jahrelange Selbstzweifel und schliesslich auch die psychische Krankheit ankämpfen. Das ist seine Geschichte.
17.03.2024, 04:4117.03.2024, 08:41
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Max (Name geändert) fällt in ein tiefes Loch, als er durch eine Weiterbildungsprüfung fällt, die er für seine Anstellung benötigt. Ein Trauma aus der Jugend wird geweckt. Seine schulische Laufbahn war geprägt von Misserfolgen, Versagensängsten und Selbstzweifeln. Obwohl er fleissig war, rasselte er ständig durch Klausuren, musste sitzenbleiben und Prüfungen unzählige Male wiederholen.

Immer grübelte er an der Frage: Warum kriege ich es einfach nicht hin?

Mit 55 steht er wieder am selben Punkt. Er fühlt sich als Versager, Nichtsnutz. Scham- und Schuldgefühle lassen ihn nicht mehr los. Wie soll er das seinem Arbeitgeber erklären? Existenzielle Ängste stürzen ihn in eine Depression.

Unverzüglich sucht er sich ärztliche Hilfe – und bekommt unerwartet die Diagnose: ADS.

Nicht selten erhalten Betroffene erst auf diesem Weg ihre Diagnose. Denn: Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen sind häufige Komorbiditäten bei AD(H)S. Psychische Begleiterkrankungen lassen sich zum einen damit begründen, dass Menschen mit einer Aufmerksamkeits- oder Hyperaktivitätsstörung im Alltag enorm viel Energie benötigen und sich vielfach ausgelaugt fühlen. Zum anderen leiden viele Menschen mit AD(H)S an einem verminderten Selbstwertgefühl. Sie bemühen sich, gesellschaftlichen Normen gerecht zu werden. Vielfach scheitern sie dabei – und stossen auf Ablehnung und Kritik. Es fällt ihnen deshalb schwer, ihre Stärken zu erkennen.

Unterschied zwischen ADHS und ADS
Der Unterschied liegt in der Hyperaktivität. Charakteristisch sind bei ADHS: Aufmerksamkeitsstörung, Impulsivität und Hyperaktivität. Bei ADS tritt die Hyperaktivität hingegen nicht auf, deshalb ist ADS auch schwieriger zu diagnostizieren.

Als Max die Diagnose erhält, fällt er aus allen Wolken. Gleichzeitig ist sie für ihn aber auch eine Erleuchtung. Sie hilft ihm, sich selbst besser zu verstehen.

«Mein Leben war mir immer ein grosses Fragezeichen. Auf einen Schlag verschwand es.»
Max

«Endlich verstand ich, warum ich in der Schule immer versagt habe, warum ich diese und jene Prüfung nicht geschafft habe, warum ich so vergesslich bin, warum ich mich so schlecht konzentrieren kann und abends immer völlig ausgelaugt ins Bett falle», erzählt Max, der die Diagnose vor zwei Jahren erhalten hat. Er spricht ohne Punkt und Komma. Neben dem Aufmerksamkeitsdefizit ist starker Rededrang ein typisches Symptom von AD(H)S. Hyperaktiv ist er hingegen nicht. Auch als Kind war er kein «Zappelphilipp», wie der Volksmund früher hyperaktive Kinder bezeichnete.

«Wenn du weisst, dass du eine solche Diagnose hast, wirst du mit dir selbst nachsichtiger und liebevoller.»
Max

Neben Max liegt ein Notizbuch. Er leidet unter Desorganisation und muss sich alle Termine und Aufgaben aufschreiben und nach Erledigung abstreichen. «Manchmal kann ich mir selbst die einfachsten Dinge nicht merken oder gehe davon aus, dass ich sie schon erledigt habe», sagt Max. Dies habe in seinem Berufsleben immer wieder zu Diskussionen und schlechten Bewertungen geführt.

«Manchmal kann ich mir selbst die einfachsten Dinge nicht merken.»
Max

Damit ist er nicht alleine. Menschen mit AD(H)S vergessen häufig Termine und Routineaufgaben, verzetteln sich leicht oder springen von einer Arbeit zur nächsten, ohne das Begonnene abgeschlossen zu haben. Keinen Durchblick zu haben, hängt mit der ständigen Reizüberflutung zusammen, die bei Menschen mit AD(H)S auftritt.

Pro Sekunde werden Abermillionen Sinneseindrücke in unserem Gehirn verarbeitet. Ein Filter sorgt dafür, dass wir nur wenige dieser Eindrücke bewusst wahrnehmen, und schützt uns vor Reizüberflutungen. Bei Menschen mit AD(H)S ist dieser Filter gestört. Ständig sind sie mit Informationen überladen und haben Mühe damit, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.

Das kennt auch Max. «Wenn ich in einem Text das Wichtigste mit einem Leuchtstift anstreichen muss, ist bei mir am Ende alles gelb.» Schuld daran ist das Ungleichgewicht der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin, das bei Menschen mit AD(H)S vorliegt. Diese sogenannten Neurotransmitter sind wichtig für die Informationsübertragung in den Nervenzellen.

«Ich nehme Reize ganz anders wahr. Ich höre stärker. Nehme Gefühle stärker wahr. Und kann das nicht einfach ausblenden.»
Max

Die permanenten Reizüberflutungen sorgen nicht nur dafür, dass sich Menschen mit AD(H)S nicht gut konzentrieren können, sie rauben auch enorm viel Energie.

«Bei der Arbeit ist meine Festplatte spätestens ab 11.30 Uhr voll», sagt Max. Das Grossraumbüro mit hohem Lärmpegel und allen möglichen Ablenkungen erschwere ihm das Arbeitsleben zusätzlich. Nur selten schaue er aufs Handy oder lese Nachrichten. «Das sind zu viele Reize, mein Gehirn kann das nicht verarbeiten.» In der Mittagspause ziehe er sich jeweils zurück, um seinen Energietank zu füllen. Er nennt dies «bewusste Reizabschirmung». «Entspannende Naturklänge helfen mir, die zweite Tageshälfte zu überstehen», so Max.

Seit rund zwei Jahren hat er ein neues Mittel, das ihn im Alltag unterstützt: Ritalin. Das Arzneimittel erhöht die Konzentration der Nervenbotenstoffe Dopamin und Noradrenalin und wird zur Behandlung von AD(H)S am häufigsten eingesetzt. Umstritten ist das dem Betäubungsmittelgesetz unterstehende Stimulans, weil befürchtet wird, dass es abhängig mache. Studien konnten jedoch belegen, dass durch eine therapeutisch wirksame Dosierung keine Abhängigkeit entwickelt wird.

«Wenn du weisst, dass du für all das nichts kannst, geht es dir so viel besser.»
Max

Nicht alle Betroffenen benötigen eine medikamentöse Behandlung. Der Einsatz von Ritalin wird Max empfohlen. Die Tatsache, dass Ritalin in der Drogenszene als Ersatz für Amphetamin missbraucht wird, hatte auf Max zu Beginn eine abschreckende Wirkung. «Mein erster Gedanke war: O Gott! Das ist doch ein Betäubungsmittel. Das nehmen Apotheker aus dem Tresor», erinnert sich Max zurück.

AD(H)S-Serie
Unter AD(H)S leiden mehr Menschen, als man denkt. In der Schweiz geht man von 200'000 bis 500'000 Betroffenen aus. Dabei dürfte die Dunkelziffer hoch sein. Doch noch immer wird die Diagnose als Modeerscheinung abgetan und der Krankheitswert bagatellisiert. Darum lenkt watson im Rahmen einer Serie den Fokus in den kommenden Wochen auf das Thema AD(H)S. Zu Wort kommen Fachpersonen sowie Betroffene.

Am Anfang habe er jeweils nur eine halbe Tablette genommen. Doch das nütze nichts. Inzwischen nimmt er einmal täglich Ritalin, ausser an den Wochenenden sowie im Urlaub. Dann benötige er nicht so viel Energie. Abhängig vom Stimulans sei er nicht. «Ich bin schon drei Wochen lang ohne Rezept ausgekommen – ohne Schweissausbrüche, ohne Zittern, ohne Entzug.» Trotzdem fürchtet er sich vor Lieferengpässen. Denn: «Ritalin hilft mir gegen die extreme Müdigkeit, die jeweils am Nachmittag aufgrund der permanenten Reizüberflutung auftritt. Ausserdem habe ich mehr Antrieb und kann mich besser fokussieren.»

«Wenn ich meinen grossen Rechner nicht benötige, brauche ich kein Ritalin.»
Max

Sobald Max die Arbeit verlässt, hat der Wirkstoff meist schon nachgelassen. «Mein Akku beträgt nach der Arbeit noch etwa acht Prozent. Mein Heimweg, der mit Chaos, Menschenmassen und Lärm verbunden ist, raubt mir dann noch die letzte Energie. Wenn ich daheim ankomme, falle ich vor Müdigkeit und Erschöpfung tot aufs Sofa», sagt Max. Wenn er dann noch etwas unternehmen möchte, nimmt er ausnahmsweise eine zweite Tablette Ritalin.

Die Depression hat Max inzwischen überwunden. Die Prüfung, die ihn erst in die Krise stürzte und später zu seiner wichtigsten Erkenntnis führte, hat er zum zweiten Mal nicht bestanden und muss ein drittes Mal antraben. Sein Arbeitgeber zeigt seit der Diagnose mehr Verständnis. «Das Leben ist leichter geworden. Ich kann über mich selbst und meine Fehler lachen. Davor habe ich mich ständig angeklagt und unter Druck gesetzt.»

«Zu wissen, dass man nicht alleine ist, tut gut.»
Max

Mit seiner Diagnose geht er gelassen um. Geholfen hat ihm vor allem das Angebot von adhs20+. Die Beratungsstelle unterstützt AD(H)S-Betroffene im Erwachsenenalter und hat unter anderem eine Selbsthilfegruppe ins Leben gerufen. Max hat sich dieser angeschlossen. «Wir sind wie Geschwister», sagt er.

Anlaufstelle
AD(H)S hat viele Gesichter und ist deshalb nicht immer leicht zu erkennen. Die Organisation adhs20+ fördert und unterstützt die Verbreitung von Informationen zum Thema AD(H)S im Erwachsenenalter. Mehr Infos dazu findest du hier.

Die porträtierte Person, die wir im Artikel Max nennen, möchte aufgrund ihrer Anstellung anonym bleiben.

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64 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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dattlezwicker
17.03.2024 07:47registriert Juni 2023
dieser bericht treibt mir tränen in die augen! könnte auch meine geschichte sein - ich war auch ü40 als ich dieselbe diagnose bekam. ich brauchte eine zeit um mit ritalin klar zu kommen - bis festgestellt wurde dass bei mir die 'retard' version nicht ausreichend wirkt - ich nehme nun die 'original' 10mg tabletten die ich mittlerweile sehr gut selber dosieren kann.

leider fehlt, auch in meinem nächsten umfeld, weiterhin das verständnis was es mit einem macht und die daraus resultierenden folgen.

vielen dank für diesen artikel! er hilft vielleicht das einige uns 'versager' besser verstehen.
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Mood
17.03.2024 07:19registriert Juni 2023
Seit Februar habe ich meine Diagnose. So viele Jahre gab ich mir selber die Schuld für die Unfähigkeit, so zu funktionieren, wie die anderen. Es war unmöglich zu entspannen oder zu regenerieren, ständige Getriebenheit bis zum Umfallen. Seit der Diagnose und mit der entsprechenden medikamentösen Therapie ist das Leben einfach schöner, einfacher. Danke Watson für diese Aufklärungsreihe! Ich kann es nicht mehr hören, dass es sich hierbei um eine Modediagnose handelt.
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MORGLUM
17.03.2024 06:15registriert Februar 2020
Danke für diesen Bericht. Tut gut zu sehen, dass man nicht alleine ist. Hoff die Leser habenmehr verständnis, dass es keine Modediagnose ist, sondern eine echte Herausforderung fürs Leben, man könnte auch von ner Einschränkung sprechen. Die Anforderungen der Gesellschaft sind für Betroffene schwer zu erfüllen.
Und Menthylfenidat (Wirkstoff von Ritalin) hilft dabei sehr.
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