Max (Name geändert) fällt in ein tiefes Loch, als er durch eine Weiterbildungsprüfung fällt, die er für seine Anstellung benötigt. Ein Trauma aus der Jugend wird geweckt. Seine schulische Laufbahn war geprägt von Misserfolgen, Versagensängsten und Selbstzweifeln. Obwohl er fleissig war, rasselte er ständig durch Klausuren, musste sitzenbleiben und Prüfungen unzählige Male wiederholen.
Immer grübelte er an der Frage: Warum kriege ich es einfach nicht hin?
Mit 55 steht er wieder am selben Punkt. Er fühlt sich als Versager, Nichtsnutz. Scham- und Schuldgefühle lassen ihn nicht mehr los. Wie soll er das seinem Arbeitgeber erklären? Existenzielle Ängste stürzen ihn in eine Depression.
Unverzüglich sucht er sich ärztliche Hilfe – und bekommt unerwartet die Diagnose: ADS.
Nicht selten erhalten Betroffene erst auf diesem Weg ihre Diagnose. Denn: Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen sind häufige Komorbiditäten bei AD(H)S. Psychische Begleiterkrankungen lassen sich zum einen damit begründen, dass Menschen mit einer Aufmerksamkeits- oder Hyperaktivitätsstörung im Alltag enorm viel Energie benötigen und sich vielfach ausgelaugt fühlen. Zum anderen leiden viele Menschen mit AD(H)S an einem verminderten Selbstwertgefühl. Sie bemühen sich, gesellschaftlichen Normen gerecht zu werden. Vielfach scheitern sie dabei – und stossen auf Ablehnung und Kritik. Es fällt ihnen deshalb schwer, ihre Stärken zu erkennen.
Als Max die Diagnose erhält, fällt er aus allen Wolken. Gleichzeitig ist sie für ihn aber auch eine Erleuchtung. Sie hilft ihm, sich selbst besser zu verstehen.
«Endlich verstand ich, warum ich in der Schule immer versagt habe, warum ich diese und jene Prüfung nicht geschafft habe, warum ich so vergesslich bin, warum ich mich so schlecht konzentrieren kann und abends immer völlig ausgelaugt ins Bett falle», erzählt Max, der die Diagnose vor zwei Jahren erhalten hat. Er spricht ohne Punkt und Komma. Neben dem Aufmerksamkeitsdefizit ist starker Rededrang ein typisches Symptom von AD(H)S. Hyperaktiv ist er hingegen nicht. Auch als Kind war er kein «Zappelphilipp», wie der Volksmund früher hyperaktive Kinder bezeichnete.
Neben Max liegt ein Notizbuch. Er leidet unter Desorganisation und muss sich alle Termine und Aufgaben aufschreiben und nach Erledigung abstreichen. «Manchmal kann ich mir selbst die einfachsten Dinge nicht merken oder gehe davon aus, dass ich sie schon erledigt habe», sagt Max. Dies habe in seinem Berufsleben immer wieder zu Diskussionen und schlechten Bewertungen geführt.
Damit ist er nicht alleine. Menschen mit AD(H)S vergessen häufig Termine und Routineaufgaben, verzetteln sich leicht oder springen von einer Arbeit zur nächsten, ohne das Begonnene abgeschlossen zu haben. Keinen Durchblick zu haben, hängt mit der ständigen Reizüberflutung zusammen, die bei Menschen mit AD(H)S auftritt.
Pro Sekunde werden Abermillionen Sinneseindrücke in unserem Gehirn verarbeitet. Ein Filter sorgt dafür, dass wir nur wenige dieser Eindrücke bewusst wahrnehmen, und schützt uns vor Reizüberflutungen. Bei Menschen mit AD(H)S ist dieser Filter gestört. Ständig sind sie mit Informationen überladen und haben Mühe damit, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.
Das kennt auch Max. «Wenn ich in einem Text das Wichtigste mit einem Leuchtstift anstreichen muss, ist bei mir am Ende alles gelb.» Schuld daran ist das Ungleichgewicht der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin, das bei Menschen mit AD(H)S vorliegt. Diese sogenannten Neurotransmitter sind wichtig für die Informationsübertragung in den Nervenzellen.
Die permanenten Reizüberflutungen sorgen nicht nur dafür, dass sich Menschen mit AD(H)S nicht gut konzentrieren können, sie rauben auch enorm viel Energie.
«Bei der Arbeit ist meine Festplatte spätestens ab 11.30 Uhr voll», sagt Max. Das Grossraumbüro mit hohem Lärmpegel und allen möglichen Ablenkungen erschwere ihm das Arbeitsleben zusätzlich. Nur selten schaue er aufs Handy oder lese Nachrichten. «Das sind zu viele Reize, mein Gehirn kann das nicht verarbeiten.» In der Mittagspause ziehe er sich jeweils zurück, um seinen Energietank zu füllen. Er nennt dies «bewusste Reizabschirmung». «Entspannende Naturklänge helfen mir, die zweite Tageshälfte zu überstehen», so Max.
Seit rund zwei Jahren hat er ein neues Mittel, das ihn im Alltag unterstützt: Ritalin. Das Arzneimittel erhöht die Konzentration der Nervenbotenstoffe Dopamin und Noradrenalin und wird zur Behandlung von AD(H)S am häufigsten eingesetzt. Umstritten ist das dem Betäubungsmittelgesetz unterstehende Stimulans, weil befürchtet wird, dass es abhängig mache. Studien konnten jedoch belegen, dass durch eine therapeutisch wirksame Dosierung keine Abhängigkeit entwickelt wird.
Nicht alle Betroffenen benötigen eine medikamentöse Behandlung. Der Einsatz von Ritalin wird Max empfohlen. Die Tatsache, dass Ritalin in der Drogenszene als Ersatz für Amphetamin missbraucht wird, hatte auf Max zu Beginn eine abschreckende Wirkung. «Mein erster Gedanke war: O Gott! Das ist doch ein Betäubungsmittel. Das nehmen Apotheker aus dem Tresor», erinnert sich Max zurück.
Am Anfang habe er jeweils nur eine halbe Tablette genommen. Doch das nütze nichts. Inzwischen nimmt er einmal täglich Ritalin, ausser an den Wochenenden sowie im Urlaub. Dann benötige er nicht so viel Energie. Abhängig vom Stimulans sei er nicht. «Ich bin schon drei Wochen lang ohne Rezept ausgekommen – ohne Schweissausbrüche, ohne Zittern, ohne Entzug.» Trotzdem fürchtet er sich vor Lieferengpässen. Denn: «Ritalin hilft mir gegen die extreme Müdigkeit, die jeweils am Nachmittag aufgrund der permanenten Reizüberflutung auftritt. Ausserdem habe ich mehr Antrieb und kann mich besser fokussieren.»
Sobald Max die Arbeit verlässt, hat der Wirkstoff meist schon nachgelassen. «Mein Akku beträgt nach der Arbeit noch etwa acht Prozent. Mein Heimweg, der mit Chaos, Menschenmassen und Lärm verbunden ist, raubt mir dann noch die letzte Energie. Wenn ich daheim ankomme, falle ich vor Müdigkeit und Erschöpfung tot aufs Sofa», sagt Max. Wenn er dann noch etwas unternehmen möchte, nimmt er ausnahmsweise eine zweite Tablette Ritalin.
Die Depression hat Max inzwischen überwunden. Die Prüfung, die ihn erst in die Krise stürzte und später zu seiner wichtigsten Erkenntnis führte, hat er zum zweiten Mal nicht bestanden und muss ein drittes Mal antraben. Sein Arbeitgeber zeigt seit der Diagnose mehr Verständnis. «Das Leben ist leichter geworden. Ich kann über mich selbst und meine Fehler lachen. Davor habe ich mich ständig angeklagt und unter Druck gesetzt.»
Mit seiner Diagnose geht er gelassen um. Geholfen hat ihm vor allem das Angebot von adhs20+. Die Beratungsstelle unterstützt AD(H)S-Betroffene im Erwachsenenalter und hat unter anderem eine Selbsthilfegruppe ins Leben gerufen. Max hat sich dieser angeschlossen. «Wir sind wie Geschwister», sagt er.
Die porträtierte Person, die wir im Artikel Max nennen, möchte aufgrund ihrer Anstellung anonym bleiben.
leider fehlt, auch in meinem nächsten umfeld, weiterhin das verständnis was es mit einem macht und die daraus resultierenden folgen.
vielen dank für diesen artikel! er hilft vielleicht das einige uns 'versager' besser verstehen.
Und Menthylfenidat (Wirkstoff von Ritalin) hilft dabei sehr.