Die Wartelisten für ein Abklärungsgespräch von ADHS sind monatelang. Je mehr über die Symptome gesprochen wird, desto mehr Erwachsene schöpfen den Verdacht, unter der Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung zu leiden.
Diesen Anstieg spürt auch Psychotherapeut François Gremaud, der sich auf Diagnostik und Behandlung von ADHS spezialisiert hat. «Es kontaktieren mich immer mehr Menschen, die zufällig auf die Diagnose aufmerksam geworden sind – sei es über die (sozialen) Medien oder Bekannte», so der Psychotherapeut. Manche würden auch über eine Abklärung ihrer Kinder erstmals mit ADHS konfrontiert werden – und erkennen sich in den Symptomen wieder.
Lange gingen Ärzte und Wissenschaftler davon aus, dass nur Kinder unter ADHS leiden und die Störung sich mit der Pubertät auswächst. Inzwischen ist ADHS auch bei Erwachsenen anerkannt und der Fakt, dass ADHS keine reine Kindersache ist, gerät immer mehr ins Bewusstsein der Gesellschaft.
«Bei vielen Erwachsenen wurde ADHS im Kindesalter nicht diagnostiziert. Diese Menschen haben meist einen langen Leidensweg hinter sich», sagt Gremaud. Die Störung gehe im Erwachsenenalter häufig mit Begleiterkrankheiten wie Depressionen oder Suchterkrankungen einher. Vielfach werde ADHS erst durch die Komorbidität (eine oder mehrere Störungen oder Erkrankungen, die bei einer Grunderkrankung vorliegen) erkannt. ADHS wird bei Erwachsenen also nicht selten durch sekundäre Erkrankungen überlagert – und nicht richtig behandelt.
Der Mangel an geschulten Fachpersonen sei ein weiterer Grund für die langen Wartezeiten. «Im Master-Studium Psychologie lernt man, wie man psychische Erkrankungen wie Schizophrenie oder Angststörungen behandelt. ADHS ist da aber nicht integriert. Fachpersonen werden also nicht geschult, um ADHS zu diagnostizieren und zu behandeln», so Gremaud. Man müsse sich als Fachperson selbst weiterbilden.
Aufgrund dieser Wissenslücke komme es laut Gremaud häufig zu falschen Diagnosen und Behandlungen. «Die Problematik zeigt sich vor allem in der Medikation von Stimulanzien. Therapeuten, Ärzte oder Psychiater geben ihre Empfehlungen im Sinne ihrer persönlichen Haltung – und nicht als Fachperson.» Insbesondere die medikamentöse Behandlung mit dem Wirkstoff Methylphenidat (zum Beispiel Ritalin) werde häufig verteufelt – mit der Begründung, das Stimulans führe in eine Abhängigkeit.
Doch dies sei wissenschaftlich widerlegt. «Zahlreiche Studien zeigen, dass die Sorge einer Medikamenten- oder Drogenabhängigkeit im Zusammenhang mit der Verschreibung von Stimulanzien unbegründet ist. Einige Studien konnten nachweisen, dass das Risiko sogar sinkt», sagt Gremaud. Methylphenidat wird als Betäubungsmittel eingestuft und ist verschreibungspflichtig. Es trägt dazu bei, jene Aktivitäten im Gehirn zu erhöhen, die mit der Konzentration zu tun haben.
In der Schweiz sind Schätzungen zufolge zwischen 200'000 bis 500'000 Menschen von ADHS betroffen. Dabei dürfte die Dunkelziffer hoch sein. Gerade bei Erwachsenen ist ADHS weniger offensichtlich als bei hyperaktiven Kindern oder Jugendlichen. ADHS ist eine neurologische Erkrankung. Es ist davon auszugehen, dass ADHS vererbbar ist – genauso wie andere psychische Erkrankungen.
Bei Menschen mit ADHS befinden sich die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin, welche für die Weiterleitung von Reizen in den Nervenzellen verantwortlich sind, im Ungleichgewicht. Das wirkt sich negativ auf die Informationsverarbeitung und Konzentration aus. Im Erwachsenenalter zeigt sich ADHS insbesondere in Konzentrationsschwierigkeiten, leichter Ablenkbarkeit, Vergesslichkeit sowie Schwierigkeiten, Gesprächen zu folgen oder Termine einzuhalten.
Die Diagnostik von ADHS ist aufwändig und nicht immer auf Anhieb sichtbar. «Je nach Dopaminspiegel können sich ADHS-Patienten sehr gut konzentrieren», sagt Gremaud. Dies sei auf das Ungleichgewicht der Botenstoffe zurückzuführen. Denn die Funktionsstörung im Gehirn störe das Zusammenspiel von Aufmerksamkeit und Motivation. Gremaud macht ein Beispiel:
ADHS begleitet Betroffene meist ein Leben lang und kann sehr belastend sein. Gremaud stört es, dass die psychiatrische Störung noch immer als Trenddiagnose wahrgenommen wird – selbst bei Therapeuten und Ärzten.
Über die unterschiedlichen Gesichter von AD(H)S werden wir in den kommenden Artikeln berichten.
Zwar werde ich erst spät mit der Lehre fertig sein (Anfangs 30) jedoch hab ich endlich eine Perspektive.