Geschichte zu studieren gilt zwar als brotloser Beruf, doch derzeit haben Historiker Konjunktur. Weil die Schlacht von Morgarten (1315), die Schlacht von Marignano (1515) und der Wiener Kongress (1815) rein zufällig Jahrhundert-Jubiläen feiern, findet hierzulande eine historische Nabelschau der grotesken Art statt.
Im Bemühen, die Luftherrschaft über die Mythen der Eidgenossenschaft zu erlangen, wirft die SVP alles in die Schlacht, was sie an historischer Manpower zu bieten hat. Die Zunft wehrt sich, so gut sie kann, aber warum überhaupt? Die aktuellen Probleme der Schweiz haben nichts zu tun mit den Jubiläums-Ereignissen.
Was die Schweiz politisch bewegt, ist die Zukunft von Europa. Die Wirtschaftskrise hat den alten Kontinent hart getroffen. Selbst wenn jetzt die Geldflut der Europäischen Zentralbank (EZB) und das billige Öl berechtigte Hoffnungen auf Besserung wecken, sind die Schäden noch lange nicht beseitigt. Die EZB kommt in ihrer jüngsten Einschätzung zum Schluss, dass selbst im Falle eines Erfolges ihrer neuen Geldpolitik die durchschnittliche Arbeitslosigkeit im Euroraum bei zehn Prozent verharren wird.
Schlimmer noch: Die Arbeitslosigkeit wird vor allem die Jungen treffen. Heute schon tragen sie die Hauptlast der Krise. In Griechenland und Spanien liegt die Arbeitslosigkeit der unter 25-Jährigen noch immer über 50 Prozent, in Italien sind es mehr als 40 und selbst in Deutschland sind es mehr als 7 Prozent. «In Europa verliert eine ganze Generation wegen einer langen Periode von Arbeitslosigkeit ihre beruflichen Fähigkeiten», erklärt Lucrezia Reichlin, Ökonomin an der London School of Economics, in der «Financial Times».
Arbeitslose junge Männer sind sozialpolitisch gesehen ein Unfall, der darauf wartet, zu passieren. Und teilweise passiert dieser Unfall bereits: Faschistoide und populistische Bewegungen haben nicht nur in Griechenland und Spanien grossen Zulauf. In Italien hängt die politische Stabilität einzig am Faden von Premierminister Matteo Renzi, und sollte der reissen, dann ist alles möglich. Obwohl der Front National in Frankreich die hochgeschraubten Erwartungen in den Lokalwahlen nicht ganz erfüllt hat, sind die Präsidentschafts-Chancen von Marine Le Pen nach wie vor intakt. Sollte sie es tatsächlich schaffen, dann wäre das gleichbedeutend mit dem Ende der EU.
Gleichzeitig ist die Ukraine-Krise noch längst nicht ausgestanden. Der «Economist» hat kürzlich in einer Titelgeschichte davon gewarnt, dass angesichts der Drohungen von Wladimir Putin ein Atomkrieg noch nie so wahrscheinlich gewesen sei wie heute. Darüber spricht Christoph Blocher nicht, und sein neuer Sidekick Roger Köppel ist der grösste Putin-Versteher im Land.
Wirtschaftlich gesehen besteht die Herausforderung darin, nach Lösungen zu suchen, wie die Folgen der rasanten technischen Entwicklung sinnvoll bewältigt werden können. Die Auseinandersetzungen um den Taxidienst Uber sind bloss ein Vorgeplänkel. Was gemeinhin als Sharing Economy bezeichnet wird, könnte sich bald zur grössten Bedrohung der Arbeitsplätze des Mittelstandes herausstellen.
Die Formel, eine App mit einem Beruf zu verbinden und so bisher festangestellte Mitarbeiter in freie Unternehmer zu verwandeln, gilt nicht nur für ungelernte Angestellte. Ärzte und Juristen, Journalisten und Büroangestellte arbeiten immer häufiger nach diesem Schema. Die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaute soziale Marktwirtschaft mit einem relativ hohen Schutz für den Mittelstand wird dadurch in ihren Grundfesten erschüttert.
Die Wirtschaftsordnung der Zukunft ist derzeit noch unklar. Werden mehr als die Hälfte aller Arbeitnehmer bald überflüssig? Entwickelt sich ein neuer, digitaler Feudalismus mit einer superreichen Techno-Oligarchie und einem neuen Lumpenproletariat? Entsteht der totale Überwachungsstaat oder steht die Menschheit dank der technischen Entwicklung vor einem Quantensprung? Auf diese Fragen gibt uns die Geschichte der wackeren Eidgenossen keine Antworten.
Vom britischen Historiker Arnold J. Toynbee stammt das Zitat: «Geschichte ist nur ein verdammtes Ding nach dem anderen.» Er wollte damit zwar die Geschichts-Blindheit seiner Zeitgenossen geisseln. Was den aktuellen Historikerstreit in der Schweiz angeht, trifft diese Einschätzung den Nagel auf den Kopf: Angesichts der aktuellen Problemlage sind Morgarten, Marignano und der Wiener Kongress bloss ein verdammtes Ding nach dem anderen.
Dass es die anderen, drängenden und grossen Probleme gibt und dass sie einer Lösung bedürfen, ist klar. Der wiedererstarkende Nationalismus, der gerne mit Mythen unterlegt wird, dürfte eben gerade nicht zur Lösung der erwähnten Probleme beitragen.
Wenn er den Historikern wirklich zuhören würde, dann wüsste er, dass diese immer wieder den Bezug zur heutigen Situation herstellen.