Schweiz
International

UNO-Botschafterin Pascale Baeriswyl im grossen Interview

UNO-Botschafterin Pascale Baeriswyl wird die Schweiz im Sicherheitsrat vertreten.
UNO-Botschafterin Pascale Baeriswyl wird die Schweiz im Sicherheitsrat vertreten.bild: zvg
Interview

UNO-Botschafterin vor Wahl der Schweiz in Sicherheitsrat: «Besorgniserregende Weltlage»

Nächstes Jahr wird Pascale Baeriswyl am berühmten hufeisenförmigen Tisch in New York über Weltpolitik entscheiden. Am Donnerstag wird die Schweiz als Mitglied des UNO-Sicherheitsrat für die Jahre 2023/24 gewählt. Im Interview spricht Baeriswyl über ihre Rolle, die Blockade im Ukraine-Dossier und einen Lichtblick.
05.06.2022, 14:58
Christoph Bernet / ch media
Mehr «Schweiz»

Am nächsten Donnerstag ist es so weit: Die Wahl in den Uno-Sicherheitsrat steht bevor. Auch wenn diese eine Formsache ist: Sind Sie nervös?
Pascale Baeriswyl: Ich bin nicht nervös, sondern konzentriert. Einerseits arbeiten wir hier - unabhängig von unserer Kandidatur - in Zeiten grosser geopolitscher Spannungen an zentralen Fragen der Zukunft. Andererseits versuche ich, noch möglichst viele Kolleginnen und Kollegen aufzusuchen, um ihre Erwartungen an uns zu hören und sie um ihre Stimme zu bitten. Zudem gilt es, unser Team inhaltlich und bezüglich Stressmanagement möglichst gut vorzubereiten. Der Bundesrat hat diese Kandidatur 2011 eingereicht. Jetzt fühlt es sich am ehesten so an, wie wenn man am Ende eines langen, schönen, aber auch anstrengenden Marsches auf eine Berghütte zusteuert.

Mit wie vielen Stimmen für die Schweiz rechnen Sie?
Wir machen keine Spekulationen. Wir erhalten viele ermutigende Rückmeldungen. Der Ruf der Schweiz hier an der UNO ist gut, sie gilt als glaubwürdig. Man formuliert auch klare Erwartungen an uns: Dass wir unsere Tradition der Kompromiss- und konstruktiven Lösungssuche, der Brückenbauerin, als Land, das mit allen gute Beziehungen pflegt, auch in den Sicherheitsrat tragen. Wir rechnen grundsätzlich mit einem guten Ergebnis. Wichtig ist, dass wir mit allen Staaten auch nach der Wahl in engem Austausch bleiben.

«Wir müssen noch besser erklären, was Neutralität –Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik – genau ist.»

Sie haben die Funktion als Brückenbauerin erwähnt. Im Rahmen des Ukrainekriegs hat der Bundesrat die EU-Sanktionen gegen Russland übernommen. Das wurde international teilweise als Bruch mit der Neutralität verstanden. Hatte das einen Einfluss auf die Wahrnehmung der Schweiz und ihrer Kandidatur?
Die Schweizer Neutralität wird hier sehr geschätzt, aber wie in der Schweiz selber stellt sich jeder etwas Anderes darunter vor. So wussten zum Beispiel nur wenige, dass wir seit über 20 Jahren bei Brüchen des Völkerrechts EU-Sanktionen in der Regel nachvollziehen. Wir müssen deshalb noch besser erklären, was Neutralität - Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik - genau ist. Die Kandidatur gibt uns eine zusätzliche Möglichkeit, dies zu tun.

Es scheint auch offenbar grosser Erklärungsbedarf zu herrschen.
Ich würde von einer Erklärungschance, aber auch von einer Erklärungspflicht sprechen. Viele Staaten wussten deshalb nicht, wie die Schweizer Neutralität, etwa in der Sanktionsfrage, ausgestaltet ist, weil es bisher hier kein Thema war. Die Vertreter anderer Staaten haben oft gesehen, wie wir Position beziehen für das Völkerrecht, insbesondere für das humanitäre Völkerrecht. Es war für sie deshalb keine Überraschung, dass wir das auch im Kontext des Ukrainekriegs getan haben. Neutrale Staaten waren ausserdem schon häufig Mitglieder des Sicherheitsrats. Seit Anfang 2021 ist etwa Irland Mitglied des Sicherheitsrats. Wir beobachten das irische Mandat als Vorbereitung auf unsere angestrebte Mitgliedschaft sehr eng und tauschen uns regelmässig mit den irischen Vertretern aus, auch bezüglich Neutralität.

«Der Sicherheitsrat braucht dringend Reformen und die Schweiz engagiert sich seit vielen Jahren für solche Reformen.»

Mit Russland ist eines der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, das über ein Vetorecht verfügt, Aggressor in einem völkerrechtswidrigen Krieg. Das macht eine Mitgliedschaft im Gremium noch herausfordernder - gerade für ein neutrales Land wie die Schweiz.
Ich denke nicht, dass das im Sicherheitsrat eine grössere Herausforderung ist für uns als anderswo. Wir waren auch ohne Ratsmitgliedschaft vom ersten Tag an mit diesem Krieg konfrontiert. Als der Sicherheitsrat nicht beschlussfähig war, ist die Debatte sofort in die Generalversammlung verlagert worden, wo wir uns positionieren mussten und auch mehrfach das Wort ergriffen haben. Wir haben diesen russischen Angriffskrieg von Anfang an klar verurteilt und als das bezeichnet, was er ist: ein massiver Bruch der Charta der Vereinten Nationen. Die Schweiz hat sich auch sofort in der Flüchtlings- und der Sanktionsfrage positionieren müssen. Diese grossen globalen Fragen stellen sich auch für ein neutrales Land ständig - auch ausserhalb des UNO-Sicherheitsrats.

Pascale Baeriswyl spricht bei einer offenen Sitzung des UNO-Sicherheitsrats im November 2021.
Pascale Baeriswyl spricht bei einer offenen Sitzung des UNO-Sicherheitsrats im November 2021.bild: zvg

Aber der UNO-Sicherheitsrat ist ein anderes Kaliber als die erwähnten Organisationen.
Wir haben uns als Teil der Vorbereitung bei jeder Debatte und jedem Entscheid des Sicherheitsrats zum Ukrainekrieg überlegt, wie wir uns positionieren würden. Es hat sich gezeigt: Praktisch bei jeder Sicherheitsratsdebatte mussten wir uns parallel auch in der Generalversammlung äussern.

Die Hauptaufgabe des Sicherheitsrats ist es, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren. Doch beim Ukraine-Krieg, welcher diese Dinge existenziell bedroht, ist der Rat komplett blockiert und bleibt untätig. Weshalb sollte die Schweiz in einem solchen Gremium überhaupt mitwirken?
Eine stimmt: Der Sicherheitsrat hat im aktuellen Kontext sein Hauptmandat nicht erfüllen können, nämlich das Verhindern von Krieg. Das ist sehr bedauerlich. Er braucht dringend Reformen und die Schweiz engagiert sich seit vielen Jahren für solche Reformen. Über den Reformbedarf herrscht im Übrigen Konsens. Aber sobald es um das «Wie» dieser Reformen geht, ist sich die Staatengemeinschaft nicht einig. Der Bundesrat hat letzte Woche die Reformen der Arbeitsmethoden des Sicherheitsrates und dessen Effizienz und Transparenz als eine Priorität der Schweizer Mitgliedschaft vorgeschlagen. Die aktuell schwierige Weltlage ist vielleicht eine Chance, um einen Beitrag an eine Verbesserung der Arbeitsmethoden zu leisten.

Fakt ist: Der Rat ist so stark blockiert und handlungsunfähig wie seit vielen Jahren nicht mehr.
Wer den Schluss zieht, der Sicherheitsrat oder die UNO seien irrelevant, macht es sich zu einfach. UNO-Generalsekretär António Guterres gelang unter seinem Mandat der Guten Dienste und in enger Zusammenarbeit mit dem IKRK die Evakuierung von Zivilisten aus dem Stahlwerk in Mariupol. Wir hoffen, dass dies nur ein erster Schritt war. Im Anschluss erreichten Mexiko und Norwegen - dessen Sitz wir übernehmen würden -, dass der Sicherheitsrat in einer einstimmigen Erklärung - also mit der Stimme Russlands - diese Guten Dienste begrüsste.

Das ist nicht sehr beeindruckend.
Diese einstimmige, wenn auch sehr bescheidene, Äusserung zum Ukraine-Kontext ist ein wichtiges politisches Signal. In seinen Debatten pochen die Mitglieder des Sicherheitsrats laut auf den Respekt vor der Charta und des humanitären Völkerrechts, während ein Land relativ isoliert dasteht. Ob diese Debatten wirklich irrelevant sind oder später vielleicht informelle Räume für die Lösungssuche ermöglichen, das müssen dereinst die Historikerinnen und Historiker analysieren. Ich erinnere an die Kuba-Krise 1962, wo die Debatten des während des Kalten Krieges komplett blockierten Sicherheitsrats wohl ein Stück weit zu einer solchen Lösung beitragen konnten.

Wo sind die UNO und ihr Sicherheitsrat in Bezug auf den Ukraine-Krieg in der Lage, mehr als nur ein Forum für lautstarke Debatten zu sein?
Die UNO leistet in vielen Bereichen im Kontext des Ukrainekriegs überlebenswichtige Unterstützung. Namentlich bei der humanitären Hilfe vor Ort, aber auch - und das ist mindestens so wichtig - um die Hungerkatastrophe und andere vom Krieg ausgelöste oder verstärkte Herausforderungen wie eine mögliche Weltwirtschaftskrise etwas abzufedern helfen. Aber der Ukrainekrieg stellt über den Sicherheitsrat und die UNO hinaus die Frage nach der Verantwortung der gesamten Staatengemeinschaft.

Was meinen Sie damit?
Es stellen sich mehrere komplizierte Fragen: Wie kann ein Konflikt verhindert werden, wenn ein Staat mit Massenvernichtungswaffen nicht mehr mit internationalen Mechanismen kooperieren will? Wie kann die Einhaltung des Völkerrechts gestärkt und Verantwortlichkeit für vergangene Verbrechen so sichergestellt werden, dass dadurch künftige Verbrechen verhindert werden? Und schliesslich: Hätte die Staatengemeinschaft diesen Krieg ohne Vetorechte tatsächlich verhindern können und wenn ja, wie?

Ohne seine Stimme ist der Rat blockiert: Russlands UNO-Botschafter Wassili Nebensja am 19. März 2022 im Sicherheitsrat in New York.
Ohne seine Stimme ist der Rat blockiert: Russlands UNO-Botschafter Wassili Nebensja am 19. März 2022 im Sicherheitsrat in New York.bild: keystone

Das Vetorecht für die ständigen Mitglieder verhindert tiefgreifende Reformen. Wo lassen sich realistischerweise Verbesserungen erzielen?
Eine Erweiterung und damit verbunden verbesserte Repräsentativität des Rats ist momentan tatsächlich sehr schwierig zu erreichen. Wo die Schweiz schon seit Jahren und manchmal durchaus mit Erfolg auf Reformen drängt, ist im Arbeitsmethodenbereich. Und auch beim Vetorecht gibt es relevante Veränderungen.

Welche?
Kürzlich hat eine Gruppe von Staaten, darunter die Schweiz, erfolgreich eine Initiative Liechtensteins in die Generalversammlung gebracht. Nach einem Veto im Sicherheitsrat wird es zukünftig eine Debatte in der Generalversammlung geben, wo erwartet wird, dass die ständigen Mitglieder ihr Veto erklären. Ebenso arbeitet die Schweiz seit vielen Jahren an einer von ihr mitgestalteten Initiative: Durch einen sogenannten Verhaltenskodex soll erreicht werden, dass die Unterzeichner sich gegen Kriegsverbrechen und Völkermord einsetzen und nicht gegen Resolutionen stimmen, die sich gegen solche richten. Über 120 Staaten, also rund zwei Drittel der UNO-Mitglieder, haben sich bereits dazu verpflichtet. Und es werden immer mehr. Offensichtlich vergrössert die aktuelle Lage den Wunsch, dass der Sicherheitsrat seinen Job besser macht.

«Es gibt zahlreiche, sich überlappende Krisen und Konflikte. Die Weltlage ist besorgniserregend.»

Wo macht er seinen Job denn derzeit zufriedenstellend?
Derzeit funktioniert der Sicherheitsrat trotz grosser Spannungen in vielen Bereichen noch relativ gut. Das ist nicht zu vergleichen mit der Blockade während des Kalten Krieges. Er hat beispielsweise das sehr wichtige Mandat zur UNO-Mission in Afghanistan verlängert, ebenso wie das Mandat der Friedensoperation im Südsudan. Erst diese Woche verabschiedete er eine bedeutende Resolution zur Piraterie im Golf von Guinea. Im Moment ist der Sicherheitsrat also durchaus funktionsfähig. Pro Jahr verabschiedet er 50 bis 70 Resolutionen. Die Schweiz hofft natürlich, dass das so bleibt, und wir wollen mit unserer Kultur des Kompromisses und der Konsenssuche dazu beitragen.

Werden sich die vom Ukraine-Krieg ausgelösten Spannungen zwischen den Staaten Ihrer Meinung nach wieder abbauen lassen?
Der Ukraine-Krieg ist ein schwerer Bruch der UNO-Charta. Aber er ist bei weitem nicht die einzige Herausforderung. Es gibt zahlreiche, sich überlappende Krisen und Konflikte. Die Weltlage ist besorgniserregend. Denn wir haben eine Klimakrise und sind gleichzeitig damit beschäftigt, die sozioökonomischen Folgen einer Pandemie, die noch nicht ausgestanden ist, abzufedern. Ebenso droht eine Hungersnot in zahlreichen Ländern, die nun durch die russische Aggression noch einmal deutlich verschärft wird. Hinzu kommen Konflikte, die teilweise schon seit Jahrzehnten andauern. Wir hätten also auch ohne den Ukraine-Krieg genügend Herausforderungen gehabt. Die Schweiz wird sich deshalb sehr bemühen, dass das Vertrauen wiederhergestellt werden kann. Denn ohne Vertrauen geht es nicht.

Wie kann dieses Vertrauen zurückgebracht werden?
Wir dürfen den Dialog nicht abreissen lassen und müssen uns gemeinsam an einen Tisch setzen. Meine Hoffnung ist: Der Ernst der Stunde ist erkannt. Wir hoffen, dass die Staatengemeinschaft aus dieser Erkenntnis heraus wieder vermehrt zur internationalen Kooperation finden möge. Die Schweiz bringt gute Voraussetzungen mit, dazu einen Beitrag zu leisten. Aber Wunder vollbringen können wir nicht.

In wenigen Monaten werden Sie Platz nehmen am berühmten hufeisenförmigen Tisch in New York, wo Weltpolitik gemacht wird. Eine untypische Rolle für eine Schweizer Diplomatin. Wie ist Ihre Gefühlslage?
Ich habe grossen Respekt vor dieser Aufgabe, aber um mich oder meine Gefühlslage geht es hier nicht. An diesen Tisch setzt sich die Schweiz, nicht ich. Ich habe die Ehre, sie zu vertreten. Und ich bin nicht allein. Wir haben uns mit einem hervorragenden Team lange auf die Aufgabe vorbereitet. Und wir haben das sehr schweizerisch getan, Schritt für Schritt und pragmatisch. Ich selber beschäftige mich seit vielen Jahren mit dem Sicherheitsrat und seiner Funktionsweise. Ich bin überzeugt, dass wir der Aufgabe, die schweizerischen Werte und Interessen bestmöglich zu vertreten, gewachsen sind. Im Übrigen ist Weltpolitik für uns kein fremdes Territorium, denn wir nehmen seit Jahrzehnten Schutzmachtmandate für ständige Ratsmitglieder wahr.

Der Ton im Sicherheitsrat ist manchmal ruppig: «Sie fahren direkt in die Hölle», sagte zuletzt etwa der ukrainische Botschafter seinem russischen Kollegen. Wie gross ist die emotionale Herausforderung bei ihrer zukünftigen Aufgabe?
Wie in anderen Gremien gibt es auch im Sicherheitsrat Momente, die sehr emotional sind, gerade im aktuellen Kontext. Wir haben gute Beziehungen unter den Botschafterinnen und Botschaftern, auch mit jenen kriegsführender Länder. Neben den inhaltlichen Herausforderungen werden wir uns also darum bemühen, in solchen emotionalen Situationen einen sachlichen, aber auch empathischen Umgangston zu pflegen. (aargauerzeitung.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
23 Bilder, die Russlands Militärparade auf den Punkt bringen
1 / 25
23 Bilder, die Russlands Militärparade auf den Punkt bringen
Russland begeht am 9. Mai mit dem «Tag des Sieges» über Nazi-Deutschland seinen wichtigsten Feiertag.
quelle: imago-images
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Russische Demonstrantin wird von Passantin als «Hure» beschimpft – Video geht viral
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
21 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
21
Panzerknacker ade: Zahl der Bankomat-Überfälle hat sich 2023 halbiert

Die Zahl der Angriffe auf Bankomaten in der Schweiz hat sich innerhalb eines Jahres fast halbiert. Im Jahr 2023 gab es gemäss Zahlen der Bundespolizei 32 Bankomat-Attacken, wie diese am Freitag auf dem Portal X schrieb. Im Vorjahr waren es 56.

Zur Story