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100 Tage Leid: Wie der 24. Februar alles veränderte

Die Menschen in der Ukraine durchleben seit 100 Tagen Schreckliches.
Die Menschen in der Ukraine durchleben seit 100 Tagen Schreckliches.bild: imago

100 Tage Leid: Wie der 24. Februar alles veränderte

Für die Ukraine änderte sich alles, in Russland schaut man bis heute lieber weg. Zwei Länder, zwei Realitäten.
04.06.2022, 21:1604.06.2022, 21:16
Paul Flückiger, Warschau und Inna Hartwich, Moskau / ch media

Die russische «Spezialoperation» in der Ukraine, die am Freitg vor 100 Tagen begann, hat zwei grosse Überraschungen hervorgebracht: Erstens der erfolgreiche Widerstand der zahlenmässig weit unterlegenen ukrainischen Streitkräfte. Und zweitens das Profil ihres Oberbefehlshabers wider Willen: Wolodimir Selenski.

Vor dem 24. Februar war der ukrainische Staatspräsident auf ein Umfragetief von unter 30 Prozent abgesackt. Der ex-Komiker schaffte es, teils monatelang keine Pressekonferenzen, geschweige denn Interviews zu geben, er igelte sich im Präsidentenpalast ein und schmiedete mit seinen Beratern, die wie er selbst oft aus dem Showbusiness stammen, wenig sinnvolle Polit-Allianzen.

So bekämpfte er monatelang den Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko, im Ausland vor dem Krieg bekannter als Selenski selbst. Und er liess die von ihm abhängige Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl wegen angeblichen Hochverrats gegen seinen als sehr patriotisch geltenden Vorgänger Petro Poroschenko anstrengen. Damit setzte sich Selenski Anfang 2022 der massiven Kritik der USA und EU aus, während bereits 190'000 russische Soldaten an der Grenze im Osten und Süden der Ukraine aufmarschiert waren.

epa09992240 A handout photo made available by the Ukrainian Presidential Press Service shows Ukrainian President Volodymyr Zelensky delivering an address via video conference to Luxembourg's memb ...
Er ist zur Identifikationsfigur einer ganzen Nation geworden: Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski.Bild: keystone

Gegen Poroschenko wird zwar auch heute noch ermittelt, doch abgesehen davon hat sich am 24. Februar so ziemlich alles geändert. Selenski ist in den Umfragen inzwischen noch beliebter als bei seinem Wahlsieg im Mai 2019. Vor allem aber hat er sich in einen Kommunikationsprofi verwandelt, dem alle aus der Hand zu fressen scheinen.

Jeden Tag zu später Stunde richtet er sich aus dem Präsidial-Bunker oder locker in den Altstadtgassen stehend an sein Volk. Selenski ist empathisch, er gedenkt jedem Opfer russischer Brutalität, sieht traurig und übermüdet aus, aber strotzt immer noch vor Entschlossenheit. Meist sitzt er im olivgrünen T-Shirt an seinem Pult, spricht abwechselnd Ukrainisch und Russisch, und fordert die Weltgemeinschaft heraus. In der EU gibt es bereits Staatssender, die diese Reden jeden Abend simultan-übersetzt in der Tagesschau ausstrahlen – zum Beispiel das westliche Nachbarland Polen.

Bittere Niederlage für die Armee der Ukraine

Und Selenskis Botschaften haben zuletzt an Dringlichkeit zugenommen. Denn gerade steht die Entscheidungsschlacht über die Zukunft des bisher von Kiew gehaltenen Nord-Donbass bevor. In nur vier Tagen haben die russischen Soldaten diese Woche über 80 Prozent der wichtigen Industriestadt Severodonezk erobert – eine bittere Niederlage für die ukrainische Armee.

In Russland wollen die Meisten indes auch nach über 100 Tagen noch immer nichts von einem Krieg in der Ukraine wissen. Die Mehrheit wendet sich desinteressiert ab, rechtfertigt ihn oder findet ihn sogar gut. Manche furios, die meisten still und passiv.

80 Prozent stehen hinter dem Angriff, hat das unabhängige Moskauer Umfrageinstitut Lewada-Zentrum ausgerechnet. Die Zahlen sind in einem Land der Unterdrückung mit Vorsicht zu geniessen, und doch ist die Mehrheit da, sie trägt die Taten, sie trägt das Regime. «Eine vergewaltigte Gesellschaft schätzt Stärke sehr», sagt Lew Gudkow, der Lewada-Chef. Schüler denunzieren ihre Lehrer, die sich danach vor Gerichten verantworten müssen, weil sie den Krieg verurteilen.

Mütter beweinen ihre Soldatensöhne, von denen ihnen das Verteidigungsministerium einmal erzählt, sie seien in Gefangenschaft, ein anderes Mal, sie erfüllten ihren Dienst, wobei niemand wisse, wo sie gerade seien. Die «Spezialoperation» stellen sie dabei nicht in Frage. Sie nennen nicht einmal die Dinge beim Namen. «Fracht 200», sagen sie über die Gefallenen, «Fracht 300» zu Verletzten. Und «Spezialoperation» zum Krieg. Manchmal sagen sie auch «Ereignisse». Schicksalsergeben.

Spielzeug-Kalaschnikows und Plastikpanzer

Hinterbliebene setzt das Regime unter Druck, droht, die umgerechnet mehr als 100'000 Franken, die die Regierung Familien der gefallenen Soldaten versprochen hatte, für ihren toten Sohn, Bruder, Vater nicht auszuzahlen, sollten sie reden, sollten sie kritisieren, verurteilen. Künstlern, die Putin als den Verantwortlichen für den Krieg sehen, verbietet es Auftritte.

Ehrenamtlichen, die ukrainischen Geflüchteten aus Russland raushelfen, schüchtert es mit Strafverfahren ein. Wie es Kritiker – Aktivisten, Journalisten, Oppositionelle eingeschüchtert und viele von ihnen ins Ausland getrieben hat. In den Einkaufszentren gibt es Spielzeug-Kalaschnikows und Plastikpanzer zu kaufen. Der Krieg hat den Militarismus im Land lediglich verschärft. Angelegt waren sie in der Gesellschaft seit Langem.

In Moskau deutet nichts auf einen Rückzug hin. Im Gegenteil: Der Kreml kündigte am Freitag eine Fortsetzung seiner «Spezialoperation» bis zum Erreichen aller Ziele an. Das russische Militär meldete weitere Angriffe und die Tötung von Hunderten ukrainischen Soldaten. (aargauerzeitung.ch)

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