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«Migrationsproblem kleinreden» – so kommen extreme Parteien an die Macht

Gern gesehener Gast in TV-Expertenrunden: Bret Stephens, Kolumnist der New York Times, im Studio von NBC.
Analysiert das Weltgeschehen: Bret Stephens.Bild: NBC / Getty Images
Interview

«Wenn Politiker Migrationsprobleme kleinreden, kommen extreme Parteien an die Macht»

Der Kolumnist und Pulitzerpreis-Träger Bret Stephens analysiert messerscharf den Aufstieg von Trump, AfD und Le Pen. Es räche sich, dass man nicht offen über Ausländerprobleme sprechen dürfe, ohne als Rassist gebrandmarkt zu werden.
20.01.2024, 16:2620.01.2024, 16:37
Patrik Müller / ch media
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Bret Stephens gehört zu den interessantesten und meistgelesenen Autoren der liberalen «New York Times». Eben veröffentlichte der 50-jährige Politologe eine Kolumne, in der er Argumente aufzählte, die für Donald Trump sprechen («The Case for Trump - by Someone Who Wants him to Lose»), was fast 3000 Leserkommentare provozierte.

Darin schrieb er den folgenden Satz: «Die Massenmigration von Süden nach Norden und von Osten nach Westen ist möglicherweise das wichtigste geopolitische Ereignis des Jahrhunderts.»

Ist der Einfluss der Migration auf die Politik und Gesellschaft wirklich derart gross, wie Sie schreiben?
Bret Stephens:
Lassen Sie mich zuerst Folgendes sagen. Ich befürworte legale Einwanderung. Ich bin selber der Sohn eines Flüchtlings, meine Mutter überlebte als jüdisches Kind den Holocaust im Zweiten Weltkrieg. Einwanderer sind eine enorme Bereicherung. Aber wenn die Migration weitgehend unkontrolliert erfolgt, wie es in diesem Jahrhundert der Fall ist, und wenn sie dazu ohne die notwendige Assimilation geschieht: Dann wird Migration zu einem Problem. Es ist darum nicht überraschend, dass die Bevölkerung in den USA, wie auch in vielen Ländern Europas, darauf reagiert - und sich von jenen Politikern und Parteien abwendet, die dieses Problem ignorieren oder kleinreden.

Dass die Migration einen so grossen Einfluss auf Wahlen hat, liegt nicht nur an der hohen Zahl der Einwanderer, sondern auch daran, dass sich diese zu wenig integrieren?
Passen sich die Eingewanderten an die Kultur der Gastgeber an, oder geschieht es anders rum? In Europa gibt es ganze Stadtviertel, wo es eher aussieht wie im Nahen Osten statt wie in Frankreich oder Belgien. Das sind nicht nur Äusserlichkeiten, es geht um den sozialen Umgang der Migranten, um ihre Einstellung gegenüber Frauen, Minderheiten, LGBT-Menschen und auch gegenüber Juden.

Nehmen die regierenden Parteien diese Sorgen zu wenig ernst?
Viele Parteien zur Linken oder in der Mitte bemerken nicht, wie brisant diese Themen sind - oder sie wollen sie nicht bemerken. Als «Never-Trumper» (jemand, der schon immer gegen Trump war, die Red.) stelle ich fest: Donald Trump war der erste Kandidat, der die Migrationsfrage direkt und sehr kraftvoll angegangen ist. Es ist der entscheidende Grund, weshalb er 2016 zum Präsidenten gewählt wurde.

Kürzlich gewann auch in den Niederlanden eine Anti-Migrations-Partei die Wahlen, und in Deutschland erreicht die rechte AfD rekordhohe Umfragewerte.
Viele der Parteien, die jetzt gewinnen, verkörpern eine Mischung aus legitimen Bedenken und hässlichen Vorurteilen gegenüber allen Einwanderern. Dass die AfD in Deutschland Erfolg hat, liegt klar daran, dass sie das Thema aggressiv ansprechen, welches von den anderen Parteien ausgeblendet wird. Zum Erfolg trägt auch die Tabuisierung bei. In vielen europäischen Ländern war es lange undenkbar, über unkontrollierte Massenmigration - insbesondere von Menschen, die demokratische Werte nicht teilen - zu sprechen, ohne automatisch als Rassist bezeichnet zu werden.

People gather as they protest against the AfD party and right-wing extremism in Frankfurt/Main, Germany, Saturday, Jan. 20, 2024. (AP Photo/Michael Probst)
Währenddessen wird in Deutschland unter anderem gegen die AFD protestiert.Bild: keystone

Die deutsche Regierung aus SPD, Grünen und FDP reagiert auf den Höhenflug der AfD, indem sie ihre Ausländerpolitik verschärft. Gegenüber der Schweiz hat sie sogar Grenzkontrollen eingeführt. Ist das der richtige Weg, oder stärkt das die extremen Rechten nur weiter?
Es ist richtig, solange diese Massnahmen der Problemlösung dienen. Verschliessen die etablierten Parteien die Augen vor der Ausländerthematik, könnten wirklich gefährliche rechtsextreme Parteien an die Macht kommen. In Polen haben wir das gesehen. Es ist nicht undenkbar, dass es in Frankreich mit der Le-Pen-Partei ebenfalls passiert. Ich fürchte, dass auch in Deutschland extreme Kräfte massiv zulegen. Dagegen hilft nur, wenn die Regierungen die Leute ernst nehmen und handeln, anstatt vorzutäuschen, dass das Problem nicht existiert.

Nimmt US-Präsident Joe Biden das Problem zu wenig ernst, dass er aktuell in den Umfragen hinter Trump liegt?
Wir haben jetzt wahrscheinlich die grösste Krise an der Südgrenze, seit ich mich erinnern kann, vielleicht sogar in der Geschichte. Das hat viel damit zu tun, dass Biden, als er 2021 ins Amt kam, unmissverständlich klar machte, dass er eine viel laxere Einwanderungspolitik haben würde als Trump. Das sendete ein fatales Signal in den Süden und zog Migranten an. Nun haben wir fast jede Woche eine Grenzkrise. Lange versuchte es die Regierung zu leugnen. Sie setzte dann Vizepräsidentin Kamala Harris dafür ein. Trotzdem hat sie die Grenzregion über sehr lange Zeit hinweg nie besucht.

«Kolossales Versagen»: Migranten an der mexikanisch-amerikanischen Grenze.
«Kolossales Versagen»: Migranten an der mexikanisch-amerikanischen Grenze.Bild: Eric Gay / AP

Wie werten Sie dieses Verhalten?
Das ist Realitätsverweigerung. Letztlich handelt es sich um kolossales politisches Versagen. Nicht nur in Washington, sondern auch in vielen demokratisch regierten Bundesstaaten, die das Problem nicht in den Griff bekommen. Ich befürchte, diese Situation könnte der entscheidende Grund sein, der die Präsidentschaft des Demokraten Biden beendet.

Kann Biden jetzt noch darauf reagieren oder ist es zu spät?
Er sollte jetzt ganz einfach das Richtige tun, sonst verliert er die einfachen Leute definitiv. Wir wissen nicht genau, wie viele über die südliche Grenze kommen, wir können die Menschen, die durchrutschen, nicht zählen. Aber nach allem, was wir hören, haben wir noch nie eine Migration in diesem Ausmass erlebt. Die Folgen spürt vor allem die Arbeiterklasse, die deshalb mehr und mehr von den Demokraten zu den Republikanern überlaufen. Da hilft es Biden wenig, wenn er sagt, er sei ein Unterstützer der Gewerkschaften.

Unter den Profiteuren hat es Parteien und Politiker mit autoritären Zügen. Wird die Migration zum Stresstest für die Demokratie?
Trumps Präsidentschaft stellte die amerikanische Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit auf die Probe. Die Institutionen erwiesen sich als ziemlich robust. Doch die Wiederholung der Lüge vom Wahlbetrug geht nicht spurlos an der Demokratie vorbei. Wenn Extremisten genug lange an der Macht sind, kontrollieren sie irgendwann alle Hebel des Staates.

Republican presidential candidate former President Donald Trump smiles at a campaign event in Concord, N.H., Friday, Jan. 19, 2024. (AP Photo/Matt Rourke)
Bret Stephens: «Trumps Präsidentschaft stellte die amerikanische Demokratie auf die Probe.»Bild: keystone

Wie lässt sich das abwenden?
Die Kräfte im politischen Zentrum sind gefordert wie nie. Wir haben im Deutschland der 1920er-Jahre gesehen, wohin es führt, wenn das Zentrum versagt: Die Nazis einerseits und die Kommunisten andererseits wurden stärker und stärker. Das Zentrum muss imstande sein, Probleme zu erkennen, zu benennen, ernsthaft anzugehen und zu lösen. Die Extremisten sind nur gut darin, Probleme zu erkennen und zu benennen, aber nicht, sie zu lösen.

Und das Zentrum kann beides?
Es muss. In Deutschland funktioniert das gerade nicht so gut, und ich meine nicht bloss die Migration: Die Regierung von Olaf Scholz hat in der Wirtschaftspolitik und auch in der Frage, wie auf den Krieg in der Ukraine reagiert werden soll, nichts Überzeugendes zustande gebracht.

Wie beeinflussen die beiden Kriege - in der Ukraine und in Israel - die Wahlen in den USA?
Es ist eine Tragödie, dass Trump aus der Republikanischen Partei, die früher an einen konservativen, engagierten Internationalismus glaubte, eine Partei der Isolation gemacht hat. Das hat weitreichende Folgen. Vielen Amerikanern ist es inzwischen egal, oder sie wären sogar zufrieden, wenn Putin in der Ukraine gewinnen würde. Ich denke, das wäre eine geopolitische Katastrophe erster Ordnung.

German Chancellor Olaf Scholz attends a cabinet meeting at the chancellery in Berlin, Germany, Wednesday, Jan. 17, 2024. (AP Photo/Ebrahim Noroozi)
Olaf Scholz
Hat laut dem Experten in der Wirtschaftspolitik und Ukraine-Thematik nichts hingekriegt: Olaf Scholz.Bild: keystone

Joe Biden unterstützte die Ukraine mit Waffen und viel Geld.
Ja, er steht hier auf der richtigen Seite. Sein Fehler war jedoch, dass er zu zögerlich war. Die USA hätten die Ukraine schneller bewaffnen müssen, dann wären die Ukrainer vor einem Jahr bereit gewesen für ihre Gegenoffensive. Diese Gelegenheit wurde verpasst.

Was den Gaza-Krieg betrifft, sind die Republikaner sehr deutlich auf der Seite der Demokratie Israel.
Ja, sie unterstützen Israels Recht auf Selbstverteidigung ohne Abstriche, während es am linken Rand der Demokratischen Partei alte anti-israelische Reflexe gibt. Der Ukraine- und der Israel-Krieg hängen politisch zusammen. Wenn die Ukraine oder Israel fällt, dann ist bald das nächste freie Land dran. Leider sind sich in den USA und auch in Europa viele Leute nicht bewusst, wie viel sowohl die Ukraine wie auch Israel für uns tun: für unsere Freiheit und Demokratie, aber auch für unsere eigene Sicherheit.

Sie waren diese Woche am WEF in Davos, haben Sie den Eindruck, dass zumindest die dort versammelte Elite dieses Bewusstsein hat?
Mein Eindruck war, ja, die Mehrheit der Menschen in Davos sähe es gern, dass die Ukraine auf dem Schlachtfeld gewinnt. Ob das auch im Fall von Israel gilt: Da bin ich mir leider nicht so sicher. (aargauerzeitung.ch)

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183 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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International anerkannter Experte für ALLES
20.01.2024 16:54registriert Juli 2021
Er hat leider recht. Sagt man irgendwo etwas gegen unkontrollierte Migration, wird man gleich in die SVP-Ecke gestellt.

Meine Frau ist Lehrerin und erlebt jeden Tag, was diese Nicht-Anpassung bedeutet: "von einer Frau lasse ich mir nichts sagen" ist noch ein ganz milder... es geht von da an nur noch abwärts bis in Gefielde, wo ich mich manchmal echt frage, wie sie das aushält...
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JBV
20.01.2024 16:45registriert September 2021
Danke für diesen Artikel. Bret Stephens bringt die genannten Probleme in seinen Erklärungen kurz und knapp auf den Punkt.
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Corahund
20.01.2024 17:54registriert März 2014
Dieses Gespräch sollte zur Pflichtlektüre in den Parteizentralen der SP, der Grünen und der Mitte
erklärt werden. Vielleicht führt es zu Anpassungen des Vorgehens und der Haltung, bevor es zu spät
ist. Man kann es nur hoffen.
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