Im letzten Jahr hatten wir Schätzungen zufolge eine Nettozuwanderung von rund 100’000 Personen. Ist eine 10-Millionen-Schweiz unvermeidlich?
Hendrik Budliger: Ich bin mir nicht sicher. Es gibt Gründe, die dagegen sprechen. Wir hatten in der jüngeren Vergangenheit eine Nettozuwanderung in der Bandbreite von 40'000 (2018) bis 87'000 (2013) pro Jahr. Das heisst aber nicht, dass es so weitergehen wird. Man muss auch die regionalen Unterschiede berücksichtigen. Nur weil die Schweiz als Ganzes wächst, heisst das nicht, dass dies auf alle Regionen und erst recht alle Gemeinden zutrifft.
Der Arbeitskräftemangel nimmt zu, auch weil immer mehr Menschen pensioniert werden. Warum könnte die Zuwanderung trotzdem abnehmen?
In Europa schrumpft die Bevölkerung im erwerbstätigen Alter. Das hat extreme Auswirkungen auf die Arbeitskräfte, Steuerzahler oder Konsumenten. Dieser Tatsache ist man sich in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft viel zu wenig bewusst. Hinzu kommt, dass die Weltbevölkerung gemäss den Prognosen der Vereinten Nationen ab 2086 schrumpfen wird. Viele Demografen sind jedoch der Ansicht, dass dies viel früher geschehen wird, weil die Geburtenrate in Afrika schon heute rückläufig ist. Auch China schrumpft bereits.
Was bedeutet das für die Schweiz?
Das Bundesamt für Statistik (BFS) hat drei Szenarien entwickelt. Im tiefen Szenario wird die Bevölkerung ab 2035 stagnieren und ab 2052 schrumpfen. Man sollte dabei aber nicht nur die Gesamtbevölkerung im Auge haben, sondern primär die Gruppe im erwerbstätigen Alter. Dort sieht es viel schlimmer aus. In Europa schrumpft sie seit mehr als zehn Jahren. In der Schweiz könnte dies auch schon bald der Fall sein.
Welches Szenario halten Sie für realistisch?
Dank der zuletzt starken Nettozuwanderung befinden wir uns heute näher am hohen Szenario. Bei den Geburten aber sind wir sogar unterhalb des tiefen Szenarios. Ausserdem rechne ich schon für dieses Jahr mit einer deutlich tieferen Nettozuwanderung.
Wie kommen Sie darauf?
Ich rechne mit einer verstärkten Rückkehr in die Ukraine, doch eine Prognose ist schwierig. Gleichzeitig bemühen sich jene Länder in Europa, die im erwerbstätigen Alter schrumpfen, ihre Arbeitskräfte zu halten oder zurückzuholen. Italien und Portugal tun dies mit Steuergeschenken, und das ziemlich aggressiv. Ich habe eine italienische Mitarbeiterin, die bei einer Rückkehr während drei Jahren keine Einkommenssteuer bezahlen müsste. Wenn andere Länder solche Anreize schaffen, wird es weniger attraktiv, in die Schweiz zu kommen oder zu bleiben.
Warum? Bei uns sind die Löhne so hoch wie nirgends in Europa.
Die relative Attraktivität der Schweiz hat sich verschlechtert, in den Bereichen Wohnkosten, Wohneigentum und Kinderbetreuung. Diese muss in der Schweiz zum grössten Teil privat finanziert werden. In anderen Ländern sieht dies deutlich besser aus. Ich halte unser Land für extrem attraktiv. Man verdient viel und hat mit die besten Perspektiven weltweit. Und trotzdem haben andere Länder in den erwähnten Bereichen aufgeholt. Ich sehe ein grosses Risiko, dass die Wirtschaft davon ausgeht, die Nettozuwanderung werde ungebrochen so bleiben, während sich die Rahmenbedingungen verändern.
Die Zahlen von 2023 deuten aber darauf hin, dass die Schweiz weiterhin viele Arbeitskräfte in Europa rekrutieren kann.
Mit Portugal haben wir schon seit 2017 einen negativen Zuwanderungssaldo. Man könnte meinen, dies träfe vor allem auf Pensionierte zu, die in die Heimat zurückkehren. Doch der Median der Rückkehrenden liegt bei rund 40 Jahren. Es gehen Familien mit Kindern zurück. Der Hauptgrund sind die Wohn- und Kitakosten. Ich gehe davon aus, dass wir dies auch mit anderen Ländern erleben werden. Der Fachkräftemangel ist dort höher, und ich sehe nicht, dass die Schweiz sich bemüht, attraktiver zu werden oder diese Leute aktiv zu halten.
Die hohen Löhne genügen nicht?
Es gibt ein schönes Bonmot: Mit einem Schweizer Lohn ist man überall reich, nur nicht in der Schweiz (lacht). Man verdient bei uns gut, aber es ist auch alles unglaublich teuer.
Der grösste Teil der Arbeitskräfte kommt immer noch aus Deutschland. Könnte man etwas polemisch sagen: Wenn die Ampel-Regierung endlich einen besseren Job macht, könnte es damit bald vorbei sein?
Absolut, aber die Unsicherheit ist gross. Es lässt sich kaum vorhersagen, wie sich das entwickeln wird. Die Schweizer Wirtschaft aber ist extrem abhängig von Zuwanderung, damit sie weiter wachsen kann. Es ist ein Risiko, sie einfach als gegeben zu betrachten.
In den Verbänden hat man das Problem teilweise erkannt, aber in den Unternehmen scheint man häufig davon auszugehen, es werde einfach so weitergehen.
Man hört in solchen Fällen zwei Argumente: Die Schweiz zahlt die höchsten Löhne, und sie braucht im Verhältnis zur europäischen Bevölkerung relativ wenig Leute. Ich erwidere, dass ein hoher Lohn nicht unbedingt eine hohe Kaufkraft bedeutet. Dieser Vorteil der Schweiz ist meiner Meinung nach am Abnehmen und damit die Bereitschaft, die bisherige Heimat zu verlassen und sich auf eine neue Sprache oder Kultur einzulassen. Andere Länder machen sich wie erwähnt Gedanken, wie sie ihre Leute halten oder zurückholen können.
Zum Beispiel mit Steuergeschenken.
Ich werde immer gefragt, wie diese Länder sich das leisten können. Meine Antwort lautet: Es ist auf jeden Fall günstiger, als wenn sie diese Arbeitskräfte und Konsumenten nicht haben.
Es wäre für die Schweiz gefährlich, sich weiterhin auf Europa zu verlassen?
Knapp zwei Drittel der Zuwanderung entfallen auf Europa und ein Drittel auf Drittstaaten. Wenn sich die Altersstruktur in Europa dermassen verändert, wird dies Einfluss auf die Zuwanderung haben. Da bin ich mir ziemlich sicher.
Die Zuwanderung aus Drittstaaten ist immer wieder ein Thema. Seit Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative vor zehn Jahren praktiziert der Bund eine restriktive Kontingentierung, worüber sich die Wirtschaft häufig beklagt.
Soweit ich das beurteilen kann, werden die Kontingente nie ganz ausgeschöpft. Dieser Weg ist ziemlich mühsam und bürokratisch. Nicht die Grösse der Kontingente ist das Problem, sondern der Prozess. Dazu gehört die Frage, welche Abschlüsse und Diplome anerkannt werden. Solche Hindernisse kommen aus anderen, protektionistischen Zeiten. Man wollte die Inländer schützen. Jetzt haben wir einen Fachkräftemangel und Versorgungsengpass. Bei diesen Stellschrauben muss man ansetzen, und weniger bei den Kontingenten.
Geht es trotzdem in Richtung Drittstaaten-Zuwanderung? Das Kantonsspital Baselland rekrutiert neuerdings Pflegekräfte von den Philippinen.
Wir stehen gesellschaftlich vor der Entscheidung, ob wir mit mehr Zuwanderung «bunter» und multikultureller werden wollen. Wenn wir das nicht wollen, werden wir exponentiell älter. Älter werden wir ohnehin, die Frage ist nur, wie schnell dies geschehen wird.
Damit stellen sich heikle politische Fragen, auch für die SVP.
Ich muss betonen, dass wir vollkommen unpolitisch sind. Wir betrachten die Thematik rein akademisch, etwa die Altersstruktur. Selbst im mittleren Wachstums-Szenario des BFS, das ich für eher optimistisch halte, nimmt die Gesamtbevölkerung deutlich stärker zu als jene der Menschen im erwerbstätigen Alter. Eine Diskussion über die Konsequenzen, etwa für die Steuererträge, findet aber nicht statt. Dabei brauchen wir mit mehr Alten auch mehr Geld.
Mit der Zuwanderung kommen doch viele junge Leute.
Das trifft zu, der Peak bei den Zuwandernden liegt bei 27 Jahren. Bei der Auswanderung aber sieht die Altersstruktur nur wenig älter aus. Es gehen vor allem Familien mit Kindern und nicht nur Pensionierte, wie man gemeinhin annimmt. Und seit 2019 gibt es altersbedingt im Arbeitsmarkt mehr Aus- als Eintretende. Das ist neu und führt zu empfindlichen Lücken.
Was halten Sie von der Forderung, das inländische Potenzial besser auszuschöpfen?
Die Firmen müssen flexibler werden, mehr Quereinsteiger ausbilden und auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden eingehen. Man könnte Frauen nach der Kinderpause besser integrieren. Ein grosses Potenzial sind Neurentner. Wenn wir zu wenige Pflegekräfte haben, werden junge Alte die «alten Alten» pflegen. Hinzu kommt die Digitalisierung und Automatisierung.
Viele Arbeitgeber holen noch immer lieber «fixfertige» Leute aus dem Ausland, statt Quereinsteiger auszubilden.
Alle wollen ausgebildete Leute, aber niemand will sie ausbilden. Das wird nicht mehr funktionieren. Man muss diese Entwicklung antizipieren und entsprechende Massnahmen früh einleiten. Dabei sind die Verbände gefordert, und auch politisch ist die Herausforderung gross. Es braucht eine landesweite Demografie-Strategie. Was heisst das für die Steuereinnahmen, den Konsum, den Wohnraumbedarf, die Mobilität?
Nur passiert kaum etwas. Man vertraut weiter auf die Zuwanderung.
Man schaut auf die Vergangenheit und vertraut darauf, dass es immer so weitergeht. Ich weiss nicht, wie es kommen wird, sehe aber starke Gründe dafür, dass es nicht so bleiben wird. Man muss sich dieser Risiken bewusst sein, doch das ist zu wenig der Fall.
Sie studieren auch die Probleme auf dem Wohnungsmarkt. Das Angebot scheint sich zu verknappen und wird immer teurer. Oder wie sehen Sie das?
Wir haben die Thematik eingehend analysiert, bis auf Ebene der Gemeinden. Ein- und Zweipersonenhaushalte werden weiterhin wachsen, auch weil ältere Menschen häufig allein leben. Das beeinflusst die Nachfrage. Die Leerstände waren prozentual schon tiefer als heute, und bei grösseren Wohnungen und Einfamilienhäusern nehmen sie tendenziell zu. In 15 Kantonen haben wir steigende Leerstände bei Fünf-Zimmer-Wohnungen, und bei Einfamilienhäusern sogar in 19 Kantonen. Das ist relativ krass und wird überhaupt nicht diskutiert.
Das Problem dürfte auf ländliche Regionen zutreffen, aber kaum auf die Zentren.
Die Stadt Zürich hatte 1962 rund 440’000 Einwohner, etwa gleich viel heute. Die Zahl der Wohnungen aber hat um 55 Prozent zugenommen, weil die Haushaltsgrössen geschrumpft sind. Der oft zitierte Dichtestress findet nicht in der Wohnung statt. Man hat die Wohnungen «entdichtet». Gleichzeitig sind die Wohnungen deutlich teurer geworden, aber offenbar ist man bereit, den Preis zu bezahlen, damit man nicht mit mehr Menschen zusammen wohnen muss. Zugenommen hat die Mobilität. Den Dichtestress findet man im Verkehr.
Auch Zuwanderer ziehen primär in die Zentren. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Wir haben die Tendenzen für Baselland analysiert. In einigen Gemeinden altert die Bevölkerung schon heute stark. Es wird zu mehr Leerständen und sinkenden Preisen kommen. Das wird sich auf die Stadt Basel auswirken, und überhaupt auf die Kernstädte. Bei tieferen Preisen in der Agglomeration und auf dem Land werden die Leute anfangen zu rechnen und sich fragen, wie viel Arbeitsweg sie in Kauf nehmen wollen, um Wohnkosten zu sparen. Man darf die Stadt nicht isoliert betrachten, auch Zürich mit seiner hohen Nachfrage nicht.
Gerade in Zürich hat man das Gefühl, die Mieten steigen und steigen.
Zürich wächst und wird weiter wachsen. Aber es wird nicht unendlich wachsen, wegen solchen Effekten. Schon wenn Sie mit der S-Bahn zwei Stationen aus Zürich hinausfahren, ändert sich die Altersstruktur sehr schnell. Entsprechend werden sich auch Leerstände ergeben, und die Leute werden sich fragen, ob sie dorthin ziehen und pendeln wollen. Das wird sich auf die Preise in der Stadt auswirken. Schon heute gibt es Städte, die nicht mehr oder nur wenig wachsen, zum Beispiel Basel, Bern und Genf.
Was bedeutet das konkret?
Wir werden in eine Zeit kommen, in der immer mehr Wohnraum frei wird. Im Alter werden die meisten Menschen zu Verkäufern. Was bedeutet das für die Immobilienpreise? Und für die Banken, die Hypotheken vergeben? Wir haben die demografischen Risiken für diverse Gemeinden berechnet. Je nachdem kann diese Entwicklung schon bald einsetzen.
Welche Gemeinden sind das?
Diejenigen, die jetzt schon alt sind und in denen Zuzüger fehlen. Das ist ein Teufelskreis. Die Preise und die Steuereinnahmen sinken. Dadurch werden die Gemeinden strukturell weniger attraktiv. Und das Problem könnte sich weiter verschärfen, denn viele Immobilienbesitzer gingen und gehen von stetig steigenden Preisen aus. Man spricht von Betongold. Wenn das ins Rutschen kommt, werden plötzlich alle verkaufen wollen.
Man kennt dieses Phänomen bei sinkenden Aktienkursen.
Genau. Wir haben schon heute einen relativ grossen Bestand an Bauten, die altersbedingt eigentlich auf den Markt kommen sollten. Aufgrund der steigenden Preise wurden sie nicht verkauft. Wenn das kippt, kann es plötzlich schnell gehen.
Sorgt die Zuwanderung in diesem Bereich für falsche Erwartungen?
In der Baubranche und in der Wirtschaft generell ist die Vorstellung stark verankert, die Schweiz werde immer weiter wachsen. Wenn ich mit Bauentwicklern rede, zeigen sie auf das mittlere Szenario des Bundesamts für Statistik. Man will immer mehr bauen, denn die Nachfrage ist ohnehin da. Ich hingegen bin mir sicher, dass die Schweiz nicht ewig wachsen wird, besonders nicht in einem schrumpfenden Europa. Wie es sich entwickelt, weiss ich nicht, aber ich glaube nicht, dass es noch zehn Jahre so weitergehen wird.
Es haben ja viele Leute im Ausland erkannt, dass die hohen Lebenshaltungskosten hier den Lohnvorteil wieder zunichte machen.
Firmen, die nicht in ihre Arbeitnehmer investieren bzw. keine Quereinsteiger ausbilden wollen, werden es noch bereuen und im wahrsten Sinne des Wortes dafür teuer bezahlen.