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Interview

Jugendgewalt: «Diese Strafen sind ein Witz»

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«Als Mami, die ihre Tochter verloren hat, sage ich: Diese Strafen sind ein Witz»

Eine 16-Jährige mobbte die 13-jährige Céline. Danach brachte sie sich um. Die Täterin lachte nur darüber. Mit dem Fall Berikon kommt bei Célines Mutter alles wieder hoch.
17.05.2025, 09:4717.05.2025, 09:47
Andreas Maurer / ch media
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Am 11. Mai erstach in Berikon AG eine 14-Jährige mutmasslich eine 15-Jährige. Sie waren befreundet, doch dann kam es zum Streit. Der Fall löst eine Debatte über das Jugendstrafrecht aus: Ist es richtig, dass in der Schweiz Freiheitsstrafen erst ab 15 Jahren möglich sind?

Nadya Pfister hat darauf eine dezidierte Antwort. Sie ist die Mutter von Céline. Das Mädchen aus Spreitenbach erlangte 2017 traurige Berühmtheit. Mit 13 Jahren nahm sich Céline das Leben.

Nadya und Candid Pfister vor einem Bild ihrer verstorbenen Tochter in ihrer Wohnung.
Nadya und Candid Pfister vor einem Bild ihrer verstorbenen Tochter in ihrer Wohnung.Bild: Sandra Ardizzone

Zuvor war sie Opfer von Cybermobbing geworden. Sie war in einen 14-Jährigen verliebt, der ihre Gefühle missbrauchte. Er setzte sie unter Druck, ihm freizügige Fotos von sich zu schicken. Sie tat es.

Er leitete die Bilder seiner eifersüchtigen Ex-Freundin weiter. Diese war 16 Jahre alt und verbreitete die Bilder auf Snapchat. Hunderte Jugendliche bekamen die Blossstellung mit.

An der Badenfahrt, einem Volksfest, verlagerte sich der Streit von der Onlinewelt auf die Strasse. Die 16-Jährige griff Céline verbal an und machte vor einer Gruppe Sprüche über die Affäre.

Am Tag danach brachte sich Céline um. Sie hinterliess keinen Abschiedsbrief.

Die Täterin und der Täter mussten später beide gemeinnützige Arbeitseinsätze von je vier Tagen leisten.

Céline wäre heute 21 Jahre alt. Ihre Eltern engagieren sich für mehr Prävention und härtere Strafen.

Am Muttertag geschah das Tötungsdelikt von Berikon. Was ging Ihnen danach durch den Kopf, Frau Pfister?Nadya Pfister: Der Fall löste bei uns ein Flashback aus, weil wir wissen, wie es diesen Eltern geht. Es hat mich richtig durchgeschüttelt. Und gleichzeitig bin ich nicht komplett verwundert. Der Umgang unter Jugendlichen hat sich verändert; die Gewaltbereitschaft ist gestiegen.

Eine der schwierigsten Fragen in solchen Fällen lautet: Warum haben die Eltern nicht mitgekriegt, dass ihre Tochter Probleme hat? Haben Sie in Ihrem Fall eine Antwort darauf gefunden?
Das ist eine Unterstellung. Céline erzählte mir fast alles. Ich wusste, dass sie in einen Jungen verliebt war, der sie nur als Trophäe sah. Ich merkte, dass sie vor den Sommerferien bedrückt war. Ich bot ihr an, zu einer Fachperson zu gehen, falls sie nicht mit mir darüber reden will. Sie sagte aber, dass wir zuerst in unsere gemeinsamen Ferien in Südfrankreich gehen sollten. «Dort kriege ich den Kopf frei», sagte sie. Doch in diesen Ferien schrieb er ihr wieder und setzte sie unter Druck, wie wir später erfuhren.

Hätten Sie rückblickend ihr Handy kontrollieren sollen?
Es tut sehr weh, das heute sagen zu müssen: Ja, es wäre besser gewesen, ich hätte dies getan. Ich sah damals aber keinen Grund dafür. Sie konnte mir mit 13 sogar sagen, dass sie verliebt war. Die meisten Jugendlichen in Spreitenbach hätten dies ihren Eltern in diesem Alter nicht anvertraut.

Raten Sie Eltern, alle Nachrichten und Fotos auf dem Smartphone ihrer Kinder in diesem Alter zu kontrollieren?
Wenn man eine Vertrauensbasis hat, hat man eigentlich keinen Grund dazu. Teenies haben ihre Geheimnisse, was auch in Ordnung ist. Man muss nicht alles wissen. Aber jetzt, nachdem es in unserem Fall so schlimm herausgekommen ist, sitze ich da und sage: Hätte ich doch …

Sie haben den Verein celinesvoice.ch gegründet und halten viele Vorträge an Schulen. Wie gehen Sie vor?
Die Schulen melden sich bei uns, wenn sie Probleme haben. Dann gehen wir hin und schauen im Klassenzimmer zuerst zusammen eine Videodokumentation über unseren Fall. Unser Vortrag beginnt dann mit dem 28. August 2017 um 17.30 Uhr.

Der Zeitpunkt, an dem Sie Céline tot zu Hause gefunden haben.
Bis auf die Art, wie sie sich umgebracht hat, erzählen wir alles. Oft reagieren die Jugendlichen schockiert. Sie sind schon weinend aus dem Klassenzimmer gelaufen. Wir bleiben am Schluss immer noch da, um sie in die Arme zu nehmen, wenn sie das möchten.

Machen die Schulen genug?
Sie machen schon viel, aber das genügt nicht. Céline veränderte sich auch in der Schule auffällig. Sie ging nicht mehr gerne hin, obwohl sie Bestnoten schrieb. Die Lehrer nahmen aber keinen Kontakt mit uns auf.

Das Jugendstrafrecht setzt auf Schutzmassnahmen. Freiheitsstrafen sind erst ab 15 Jahren möglich. In Ihrem Fall bestrafte die Justiz den Täter und die Täterin mit kurzen Arbeitseinsätzen.
Diese Strafen sind ein Witz. Die Täterin hat in unserem Fall vier Tage auf der Jugendstaatsanwaltschaft Dietikon im Büro gearbeitet. Sie kaufte sich dafür ein Deux­pi­èces und nahm ein Foto von sich vor dem Laptop auf. Daraus machte sie eine Social-Media-Story und schrieb dazu: «Business Look». Das zeigt: Die Justiz kann kriminelle Jugendliche mit solchen Strafen nicht beeindrucken.

Auf Ihre Initiative hin erarbeitet das Bundesparlament derzeit einen neuen Straftatbestand für Cybermobbing.
Das freut uns sehr. Aber solange dafür nicht härtere Strafen möglich sind, wird der neue Straftatbestand nicht viel bringen. In unserem Fall hat die Täterin nach Céline ein weiteres Mädchen attackiert. Diese drohte daraufhin mit einer Strafanzeige. Die Täterin antwortete sinngemäss: «Mach das nur, aber vorher reisse ich dir noch deine Pussy auf.» Der Ton hat sich verschärft. Deshalb müssen wir auch die Antworten verschärfen.

Was fordern Sie konkret?
Freiheitsstrafen sollten ab 14 Jahren möglich sein. Statistiken zeigen, dass die Jugendlichen immer früher in die Pubertät kommen und dass die Täter jünger werden. Sie entwickeln sich schneller und haben schon in jüngerem Alter mehr Ideen – gute und böse.

Schutzmassnahmen und milde Strafen können helfen, die Entwicklung von Jugendlichen in die richtigen Bahnen zu lenken, anstatt sie zu kriminalisieren. Warum überzeugt Sie das nicht?
Als Mami, die ihre Tochter verloren hat, habe ich eine andere Perspektive. Ein paar Tage gemeinnützige Arbeit als Strafe verharmlosen aus meiner Sicht solche Taten.

Sie hätten auch Mutter einer Täterin werden können. Würden Sie Ihrer Tochter dann nicht helfen wollen, statt sie zu bestrafen?
Diese Frage habe ich mir schon x-mal gestellt. Ich sage aber nicht, die Täter sollten lebenslang eingesperrt werden. Ich sage nur: Zehn Tage gemeinnützige Arbeit sind für schwere Taten zu wenig. Eine solche Strafe erhielt mein Mann, als er einst als Jugendlicher sein Töffli frisiert hatte. Die Jugendlichen, die Cybermobbing betreiben oder sich mit Messern bewaffnen, müssen wissen, dass sie mit Konsequenzen rechnen müssen.

Dafür kämpfen sie nun schon seit bald acht Jahren. Ist es nicht anstrengend, immer wieder über Ihren Fall zu reden?
Ja, aber das muss so sein. In unseren Vorträgen kommen unsere Emotionen jedes Mal hoch, und deshalb fühlen die Jugendlichen mit. Solange die Schulen uns anfragen und unsere Botschaft bei den Jungen ankommt, machen wir weiter. Wenn Pädagoginnen oder Polizisten zu ihnen sprechen, hören sie zu. Aber wenn wir vor ihnen stehen, hängen sie uns an den Lippen. Wenn wir damit auch nur eine Tat verhindern können: Mission erfüllt. (aargauerzeitung.ch)

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CISG
17.05.2025 10:27registriert Oktober 2023
Zwischen 13-16 erlebte ich die Hölle. Ich wurde geschlagen und gemobbt wortwörtlich bis aufs Blut und regelmässig in die Eier getreten. Nur weil ich schwul bin. Lehrer lachten damals über verletzende Schwulenwitze laut mit. Null Unterstützung. Zweimal Suizidversuch. Wegen massiv zu hohem Blutdruck wurde ich vom Hausarzt schliesslich vom Sport dispensiert. Das rettete mich vor den schlimmsten Auswüchsen.

Ein Albtraum hätte es damals schon Socialmedia gegeben. Deshalb striktes Handyverbot an Schulen und socialmedia erst ab 16. Bin überzeugt das rettet Leben.
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Alnothur
17.05.2025 10:02registriert April 2014
Da fehlen einem echt die Worte. Ich finde es zutiefst bewundernswert, was die beiden machen. Dass sie sich selber immer wieder mit dem furchtbaren Erlebnis auseinandersetzen, um die Welt (hoffentlich) ein kleines Stückchen besser zu machen, und jemand anderem so etwas zu ersparen.
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Nik G.
17.05.2025 10:15registriert Januar 2017
Wenn wunderts das der Umgang der Jugendlichen aggressiver geworden ist. Wir Erwachsenen leben es ja sehr gut vor. Dazu kommt das die Politiker (ja es sind fast nur Männer) alles rauslassen im Namen der angeblichen Meinungsfreiheit. Nicht nur in den USA sondern auch in der Schweiz. Siehe beispiel Glarner.
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