Schweiz
Interview

Infektiologe Pietro Vernazza schätzt die aktuelle Corona-Situation ein

Pietro Vernazza: Chefarzt Infektiologie Kantonsspital St.Gallen
Pietro Vernazza hat sein Büro in St.Gallen geräumt. Ende Monat geht er in PensionBild: Ralph Ribi
Interview

Infektiologe Pietro Vernazza: «Ich rechne für den Winter nicht mit schweren Problemen»

Pietro Vernazza war zu Beginn der Pandemie einer der meistzitierten Corona-Experten, doch zuletzt hielt er sich zurück. Kurz vor seiner Pensionierung zieht der international renommierte Aids-Forscher eine Bilanz.
28.08.2021, 22:41
Bruno Knellwolf, Regula Weik / schweiz am wochenende
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Herr Vernazza, die Infektionszahlen sind zurzeit hoch, die Hospitalisationen nehmen zu. Wie schätzen Sie die aktuelle Coronasituation ein?
Pietro Vernazza:
Wir sehen einen Anstieg von Fällen, der vor allem auf die Ferienrückkehrer zurückzuführen ist. Dabei zeigt sich deutlich, dass es Personen betrifft, die sich bisher nicht impfen liessen. Menschen aus Kosovo und Mazedonien, die ihre Familien besucht haben.

Warum sind so viele Ferienrückkehrer aus Südosteuropa erkrankt?
Ich habe mit einigen gesprochen. Daraus schliesse ich, dass in diesen Ländern mit Covid eher sorglos umgegangen wird. Dass nun viele in der Schweiz lebende Menschen mit dem Coronavirus zurückgekehrt sind, ist medizinisch gesehen deshalb hochinteressant. Es könnte bedeuten, dass sich die Menschen dort angesteckt haben, weil bei uns eine Schwäche der natürlichen Immunantwort entstanden ist. Als Ungeimpfte waren sie dort erst recht ungeschützt wegen ihrer geschwächten natürlichen Immunantwort. Das ist allerdings nur eine Hypothese. In der Wissenschaft sind Hypothesen wichtig. Sie könnten falsch sein. Das werden wir sehen.

Was könnte diese Hypothese bedeuten?
Es könnte erklären, weshalb jetzt auch mehr jüngere Menschen an Covid erkranken, weil deren Immunsystem ungenügend trainiert ist. Stimmt die These, müssten wir mehr darauf achten, dass wir die Übertragung von Viren nicht generell unterbinden. Durch ein Verhindern der Infektion tritt diese oft später auf. Wenn sie später auftritt, kommt es oft zu schwereren Verläufen.– Wie gesagt: Das sind Hypothesen.​

Würde damit die Impfung noch wichtiger?
Die Corona-Impfung gehört zu den besten und effizientesten Impfungen. Auch die neusten Überwachungsdaten aus England zeigen, dass die Impfung sehr gut verträglich ist. Mit der Impfung können wir das natürliche Immunsystem nicht stimulieren, aber wir können Antikörper bilden und noch viel wichtiger, das zelluläre Immunsystem gezielt auf eine Covid-19-Infektion vorbereiten.

«Sie benutzten mich, um andere, nicht wissenschaftlich fundierte Meinungen zu propagieren.»

Wie stark muss die Durchimpfung sein, damit wir die Pandemie verscheuchen können?
Covid-19 wird nicht verschwinden! Immer wieder wird von Herdenimmunität gesprochen. Das ist ein Begriff, der schlecht passt für das Coronavirus, weil das Virus sich erfolgreich verändern kann, sodass unsere Antikörper unwirksam werden. Daher sind diese bei Corona nicht im Zentrum, sondern mehr die zelluläre Immunantwort nach der Impfung. Die zelluläre Antwort hilft auch noch, wenn sich das Virus schon verändert hat. Wir kennen das von der Schweinegrippe, bei der Menschen nach Jahrzehnten noch geschützt waren. Die zelluläre Immunantwort verhindert keine Infektion, sie unterstützt aber den Körper bei der raschen Ausheilung. Mit Herdenimmunität bezeichnet man einen Zustand, bei dem es eigentlich keine Ausbrüche mehr geben kann. Das ist möglich, wenn Antikörper ein Eiweiss blockieren, das sich nicht verändern kann, zum Beispiel beim Masernvirus.​

Muss man daher auch mit Impfdurchbrüchen rechnen?
Genau. Die Antikörper blockieren das Virus, bevor es in die Zelle eintritt. Ein verändertes Virus kann aber diesen Schutz ausschalten. So kann es trotzdem zu einer Infektion kommen. Dann springt die zelluläre Immunantwort ein. Sie erkennt und zerstört eine bereits infizierte Zelle. Eine Infektion verläuft dadurch milder, auch die Infektiosität dürfte geringer ausfallen. So führt die Impfung mit Blick auf die gesamte Population zu einer Abnahme der schweren Verläufe. Und das ist der Grund, weshalb die Impfung zu unseren wirksamsten Massnahmen gehört. Ein Glück, dass wir sie haben.​

Seit eineinhalb Jahren plagt uns Covid-19. Wie lange geht das noch?
Die Frage ist, wie lange plagt uns diese Krankheit noch und wie lange plagen wir uns noch als Gesellschaft damit. Auf die zweite Frage habe ich keine gute Antwort. Da befürchte ich, dass es länger gehen könnte, als wir es medizinisch eigentlich vertreten können. Wir befinden uns jetzt in einer Situation, in welcher ein grosser Teil der Bevölkerung bereits Kontakt gehabt hat mit dem Virus. Zudem sind etwa 60 Prozent geimpft. Deshalb rechne ich eigentlich – bezüglich Covid – nicht mit schwerwiegenden Problemen für den nächsten Winter.​

Warum nicht?
Wie gesagt, wer geimpft ist oder die Krankheit durchgemacht hat, dürfte in diesem Winter seltener mit schweren Komplikationen rechnen. Sorgen mache ich mir höchstens, falls sich bestätigen sollte, dass meine oben genannte Hypothese zutrifft: Dann müssten wir mit deutlich mehr Infektionen durch Grippe, RSV und andere Viren rechnen.

Verstehen Sie die Radikalisierung bezüglich Impfung, die wir gerade beobachten?
Sie hat auch damit zu tun, wie wir als Gesellschaft mit Corona umgehen. Dass Menschen Impfungen ablehnen, ist ein altes Problem. Auch bei der Grippeimpfung war es schwierig, die Leute zu motivieren. Die Argumente waren die gleichen wie bei Covid-19. Das ist kein neues Phänomen.

«Wir haben Millionen in die Massnahmen gesteckt, ohne deren Nutzen zu überprüfen.»

Sie selbst wurden in der ersten Welle von einigen auch als Coronaverharmloser bezeichnet. Haben Sie sich auch missverstanden und missbraucht gefühlt?
Ja. Ich musste erkennen, dass mich gewisse Leute anders verstehen und bewerten, als dies meiner Position entspricht. Und ich fühlte mich auch von gewissen Personen instrumentalisiert. Sie benutzten mich, um andere, nicht wissenschaftlich fundierte Meinungen zu propagieren.​

Wie wohl war Ihnen noch, als Sie von Coronaleugnern «eingemeindet» wurden?
Da reagierte ich deutlich.

Sie mussten einige Hasstiraden über sich ergehen lassen. Wie gingen Sie damit um?
Auslöser war oft ein Missverständnis. Das kann zwei Gründe haben: Ich habe mich schlecht ausgedrückt, oder ich wurde falsch zitiert. Ich schaute in der Folge genauer hin, was publiziert wurde. Das war für mich ein Lehrblätz.

Sie waren zu Anfang sehr präsent in der öffentlichen Debatte, in den letzten Monaten weit weniger. War das ein Selbstschutz?
Wenn ich gefragt wurde, äusserte ich meine Meinung. Dumme Medienanfragen beantwortete ich nicht, alle anderen sehr wohl. Von gewissen Medien wurde ich bewusst abgeblockt und nicht mehr eingeladen. Das stört mich nicht, ich habe kein Sendungsbewusstsein. Und wie gesagt: Ich merkte schon auch, dass ich instrumentalisiert wurde. Wenn jemand «dä Vernazza holte», nur um die Klickzahlen zu erhöhen oder eine wirre These zu stützen, machte ich nicht mit. Das ist ein Missbrauch meiner Person.

Zu Beginn der Pandemie machte die Wissenschaft der Politik den Vorwurf, zu wenig Gehör zu finden. Veränderte, verbesserte sich dies mit der Zeit?
Ich war nicht direkt involviert und weiss daher nicht, wie sehr sich die Politik auf die wissenschaftlichen Grundlagen abgestützt hat. Ich habe nicht den Eindruck, dass sich die Politik daneben verhalten hat. Was ich feststellte: In der Taskforce hatte es am Anfang zu wenig immunologische Kompetenz. Das würde man heute sicher anders machen.

Welche Fehler machte die Politik?
Wenn ich der Politik einen Vorwurf mache, dann diesen: Wir haben Millionen in die Massnahmen gesteckt, ohne deren Nutzen zu überprüfen. Es wurde verpasst, eine Begleitevaluation zu machen. Es ist daher hypothetisch sogar möglich, dass unsere Massnahmen schädlich waren. Ich habe in der Aids–Arbeit gelernt: Interventionen müssen begleitet und validiert werden.​

Unterbreiteten Sie dem Bundesrat konkrete Vorschläge für eine Begleitforschung?
Ich teilte dem Bundesrat mit, dass ich ein Hauptproblem darin sehe, dass die Massnahmen nicht validiert werden. Konkrete Evaluationsvorschläge machte ich nicht. Wir unterbreiteten solche auf kantonaler Ebene, und diese wurden auch aufgenommen.

Sie sprechen den Kanton St. Gallen an: Er zählt zu den offenen, liberalen Kantonen in der Pandemie. Wie gross war Ihr Einfluss auf den St.Galler Gesundheitschef Bruno Damann? Sie sollen ihn beraten haben.
Das fand ich sehr interessant. Ich las auch in der «Sonntags-Zeitung», dass ich Berater von Bruno Damann sei. Ich weiss nichts davon – und er auch nicht.

Sie tauschten sich nicht aus?
Er hat mich vielleicht angerufen und meine Meinung zu einer konkreten Situation eingeholt. Ich war aber nie sein Berater, erhielt auch nie ein Beraterhonorar. Auch Bundesrat Berset hat mich angehört, das ist ja nicht falsch.​

Sie sagten einst: Wenn ich in die Pension gehe, wird Aids heilbar sein. Ganz so weit sind wir heute noch nicht.
Tatsächlich, wir sind noch nicht ganz an dem Punkt. Aber Aids ist heute in der Schweiz recht gut unter Kontrolle – gerade wegen und dank der Medikamente. Das ist ein Segen für ganz viele Menschen, die es betrifft. Aber auch für alle andern, die nicht mehr angesteckt werden. Aids zeigt, dass man mit wissenschaftlicher Forschung, medizinischem Fortschritt und Medikamenten sehr viel erreichen kann. Und es zeigt auch, dass ich die wissenschaftliche Evidenz pflege – anders als Coronaleugner.

Bei Corona stand innert kürzester Zeit eine Impfung zur Verfügung, bei Aids gelang dies nicht. Woran liegt das?
Eine Impfung gegen Aids ist aus vielen Gründen eine ganz andere Herausforderung. Dank der Erfolge der Therapie sinkt auch das Interesse, Geld in die Impfforschung zu investieren.​

Weshalb?
Wenn Sie eine Impfung oder ein Medikament entwickeln, dann wissen Sie: 90 Prozent Ihrer Projekte gehen bachab. Es ist wirklich ein «lucky punch», dass die Impfung gegen Corona derart schnell da war. Das hätte ich nicht erwartet. Hinzu kommt: Es wurde sehr viel Geld in die Impfung gegen Corona investiert, die Staaten gaben Garantien ab.

Sie arbeiten über 36 Jahre am Kantonsspital St.Gallen. Ist es für einen Forscher nachteilig, an keinem Universitätsspital tätig zu sein?
Grundsätzlich ist es sicher ein Problem, da man nicht so nahe an Forschungsgeldern ist. Gleichzeitig muss ich sagen: Das Kantonsspital und der Kanton St. Gallen haben sich sehr entwickelt und eine aktive Forschungsförderung gemacht. Dieses unterstützende Klima und die positive Zusammenarbeit sind unbezahlbar. Andernorts wird viel gestritten und gezankt, da möchte ich lieber nicht sein.​

Hatten Sie umgekehrt mehr Freiheiten bei der Forschung?
Ich suchte mir eine Nische, forschte zu HIV in Spermien. Das wollte damals niemand machen. Ich hatte keine Berührungsängste. Als ich mein erstes Projekt dazu beim Nationalfonds einreichte, hiess es: Das wird nie klappen, dass Leute ihr Sperma abgeben, aber er soll es mal versuchen. Für die betroffenen Menschen war meine Forschungsfrage zentral: Was macht mich ansteckend oder eben nicht? Sie hätten mir jeden Tag Sperma gegeben. Diese Forschung war auch Grundlage zum international anerkannten «Swiss Statement», dass HIV-Patienten unter richtiger Therapie nicht mehr ansteckend sind und angstfrei Sex haben können.​

Sie haben vor zwei Jahren für die St. Galler Grünliberalen für den National-und den Ständerat kandidiert. Können Sie sich ein politisches Amt noch immer vorstellen?
Ich bin weiterhin Delegierter der Kantonalpartei in der GLP Schweiz. Dafür werde ich nun wieder mehr Zeit haben. Eine erneute Kandidatur? Ich schaue, wie die Dinge sich entwickeln. Überlegungen werde ich erst anstellen, wenn sich die Frage konkret stellt.

Sie haben Ihr Büro geräumt. Bleiben Sie der Wissenschaft nach Ihrer Pensionierung erhalten?
Es gibt noch Projekte, die wir im Team gemeinsam abschliessen werden. Und ich habe ein paar Ideen, die ich vielleicht mit meinen Kollegen weiterverfolgen kann. Aber ich muss nicht mehr jeden Tag arbeiten.

Da bleibt mehr Zeit fürs Velofahren und fürs Singen?
Genau. Wir hatten diese Woche erstmals wieder eine Chorprobe. Ich habe das vermisst. Singen ist für das psychische Wohlbefinden ein wichtiger Faktor.​

Der Aids-Forscher
Ende Monat geht Pietro Vernazza, Chefarzt für Infektiologie, in Pension. Über 36 Jahre arbeitete er am Kantonsspital St.Gallen. Der 65-Jährige gilt als Pionier in der Bekämpfung von Aids und hat sich als HIV-Forscher international einen Namen geschaffen. Aufsehen erregte er vor allem mit seiner 2008 publizierten Arbeit, wonach HIV-Patienten unter richtiger Therapie nicht mehr ansteckend sind. Diese Erkenntnis ist bis heute als «Swiss Statement» bekannt.

Vernazza hat in zahlreichen eidgenössischen Gremien und Kommissionen mitgearbeitet. Zu Beginn der Coronapandemie hat er mit einigen Äusserungen polarisiert. Vernazza wohnt in St. Gallen, ist verheiratet und Vater von drei erwachsenen Kindern. Er ist passionierter Velofahrer und Chorsänger.

Sein Nachfolger an der Klinik für Infektiologie wird Stefan Kuster, der kurze Zeit als «neuer Daniel Koch» beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) tätig gewesen war. (rw)
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52 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Mutzli
28.08.2021 23:51registriert Dezember 2016
Holy moly, wieso muss dem jetzt hier ne Plattform geboten werden? Gibt wohl nur wenige, welche während dieser Pandemie dermassen konsequent falsch lagen wie Vernazza...ohne dass sich beim ihm offenbar je so was wie Selbstreflektion eingeschlichen hätte.
Nur so als Erinnerung an paar Highlights: War gegen den ersten Shutdown, hat die "Great Barrington Declaration" unterzeichnet, welche Verzicht auf Massnahmen und Masseninfektionen forderte, hat sich über Masken lustig gemacht, war gegen flächendeckendes Testen...

Ernsthaft jetzt, was soll da das Verbreiten von so einem Wohlfühl-Interview?
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techiesg
28.08.2021 23:11registriert März 2018
Es hat sich schon mehrfach gezeigt: man tut gut daran das Gegenteil von dem zu erwarten, was Herr Vernazza erwartet.
#sorrynotsorry
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HereComesTheSun
29.08.2021 00:14registriert Dezember 2020
Ich weiss, dass er der Spezialist ist, und ich so gut wie keine Ahnung habe, aber falls sich seine Hypothesen als korrekt erweisen sollten, werde ich ein Kochbuch von Attila kaufen, ein Menu daraus kochen und dazu Xavier streamen - das Risiko gehe ich ein.
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