Warum müssen Richterinnen und Richter ein Parteibuch haben?
Karin Keller-Sutter: Das ist gesetzlich nicht vorgeschrieben, es ist eine gewachsene Tradition. Sie rührt daher, dass man möglichst alle Werthaltungen, Weltanschauungen und politischen Strömungen, die es in der Bevölkerung gibt, an den Gerichten abbilden wollte. Aber auch Parteilose können für das Bundesgericht kandidieren.
Allerdings haben Parteilose kaum Chancen, gewählt zu werden. Die Kandidierenden werden ja von ihren Parteien getragen.
Jeder Mensch hat Werthaltungen und ist geprägt durch die Herkunft, die Familie, den Beruf. In diesem Sinn ist niemand parteilos, alle bringen in ihrem Lebensrucksack Prägungen mit. Ich selbst bin in einem Gewerbehaushalt aufgewachsen mit drei älteren Brüdern, habe im Ausland studiert, bin früh in die Politik gegangen als Frau in einer bürgerlichen Partei – all das hat mich geprägt. So bin ich zum Beispiel nicht einfach nur eine Freisinnige, so wie man sich das nach Parteibuch vorstellt.
Gerade weil jede und jeder Prägungen mitbringt, könnte man fordern, dass Richterinnen und Richter ohne Parteibuch antreten. Im Journalismus war es auch gang und gäbe, Mitglied einer Partei zu sein– davon hat man sich der Unabhängigkeit zuliebe verabschiedet.
Man tut den Richterinnen und Richtern unrecht, wenn man sagt, sie würden lediglich politisch urteilen. Bundesrichter sind keine Parteisoldaten, sie urteilen gemäss dem Gesetz. Aber die Rechtswissenschaft ist keine exakte Wissenschaft. Dort, wo es einen Ermessensspielraum gibt, beeinflussen auch Werthaltungen und Prägungen ein Urteil.
Auf Bundesrichter wird immer wieder politisch Druck ausgeübt. Das zeigte sich im Fall von SVP-Richter Yves Donzallaz.
Der Aufruhr im Parlament war gross, als Herr Donzallaz attackiert wurde. Für mich war klar, dass damit seine Wiederwahl gesichert war. Es ist in der Schweiz noch nie ein Richter abgewählt worden aufgrund eines Urteils. Die Unabhängigkeit der Gerichte ist von der Verfassung geschützt. Das System funktioniert.
Wir kennen Juristen und Juristinnen, die sich überlegen, in welcher Partei sie bessere Wahlchancen haben: in der SVP oder der Alternativen Liste (AL). Die Wahl der Partei ist oft wie ein Losentscheid.
Aus meiner Zeit als Justizdirektorin weiss ich, dass es solche Fälle gibt. Der eine oder andere Richter ist in eine Partei eingetreten wegen der Wahl. Das Spektrum reichte allerdings nicht von SVP zu AL. So opportunistisch sind die Überlegungen meistens nicht.
Was würde dagegensprechen, die Wahl von Richterinnen und Richter parteiunabhängig auszugestalten?
Diese Frage müsste das Parlament beantworten. Die Gerichtskommission diskutiert aktuell über diese Öffnung. Aber die Initiative will, dass man Richterinnen und Richter unseres obersten Gerichts auslost. Es kann nicht sein, dass damit nicht mehr die Fähigsten gewählt werden, sondern jene, die am meisten Glück haben.
Werden denn mit dem heutigen System die fähigsten und kompetentesten Personen gewählt?
Es kann einmal vorkommen, dass sich ein Wahlorgan täuscht. So etwas kann man auch in der Privatwirtschaft nicht ausschliessen. Vielleicht stellt man einen CEO an, obwohl ein anderer besser gewesen wäre.
Die Kandidierenden werden vorab von einer Expertenkommission auf ihre Eignung hin überprüft und in einem nächsten Schritt per Los erkoren. Das heisst, für das Amt qualifiziert wären alle.
Damit würde sich die politische Diskussion hin zur Besetzung dieser Expertenkommission verschieben. Gemäss Initiative ernennt der Bundesrat diese Experten. Die Justiz-Initiative stärkt das Expertentum und den Bundesrat gegenüber dem Parlament. Das ist interessant, denn seit der Coronapandemie hiess es immer, die Experten hätten zu viel Gewicht. Doch hier passiert genau das: Die Macht verschiebt sich vom Parlament weg, hin zu einem vom Bundesrat ernannten Expertengremium. Und dann stellt sich die Frage: Wer kommt in das Gremium? Ein Professor, der der SVP nahesteht, ein SP-Richter aus dem Tessin? In unserem System findet man niemanden, der gänzlich unabhängig ist.
Trotzdem: Würde dem System von heute eine Reform nicht guttun?
Über gewisse Reformen kann man diskutieren, das hat der Bundesrat auch in seiner Botschaft gesagt. Aber hier sprechen wir über ein Losverfahren für das oberste Gericht. Das passt nicht in unsere demokratische Tradition, das ist wie ein Fremdkörper im institutionellen Gefüge der Schweiz. Ich frage mich auch, wie die Annahme dieser Initiative im Ausland und bei der eigenen Bevölkerung wirken würde. Wir würden damit sagen, dass das Bundesgericht nicht unabhängig ist und darum im Losverfahren bestimmt werden muss. Das wäre kein gutes Signal für den Rechtsstaat.
Im antiken Griechenland gab es das Losverfahren. Auch in der Schweiz kam es, etwa bei der Landsgemeinde in Glarus, im 17. Jahrhundert für bestimmte Ämter zum Zug.
In der Antike wurde das Losverfahren dort angewendet, wo keine besonderen Fähigkeiten gefragt waren. Jedenfalls hat sich das Losverfahren nirgends wirklich durchgesetzt.
Der belgische Historiker David van Reybrouck plädiert für das Losverfahren. Auch der Schweizer Politologe Nenad Stojanovic hält es für «demokratisch gerechter».
In den Kommissionen beider Räte wurde die Justiz-Initiative intensiv diskutiert. Im Nationalrat bekam die Initiative eine einzige Stimme. Der Ständerat hat sie einstimmig abgelehnt.
Kommen wir noch zu einem anderen Thema. Haben Sie Angst, dass das Covid-19-Gesetz abstürzt?
Angst ist nie ein guter Ratgeber für den Bundesrat. Es ist eine demokratische Auseinandersetzung. In der Schweiz haben wir das Privileg, dass das Volk überhaupt über solche Fragen abstimmen kann. Nun werden wir sehen, wie das Volk entscheidet.
Was geschieht bei einem Nein?
Dann könnte der Bund keine Covid-Zertifikate mehr ausstellen. Mit allen Konsequenzen. Das Reisen wäre erschwert, auch wenn man mit dem Impfausweis ebenfalls reisen kann. Wir hätten Probleme im EU/Efta-Raum, weil wir das Zertifikat gegenseitig anerkennen. Zudem würden Finanzhilfen dahinfallen, die auf das Covid-Gesetz abgestützt sind.
Wie erklären Sie sich die Radikalisierung in der Schweiz?
Die Coronakrise hat zu persönlichen Härten geführte. Menschen haben ohne eigene Schuld ihr Geschäft verloren. Ich denke da an die Gastronomie, die Reiseveranstalter, die Eventbranche. Der Bund hat zwar finanziell geholfen, dennoch vernichtete die Krise ganze Existenzen. Die Einschränkungen hatten psychologische Auswirkungen auf die Gesellschaft, obwohl die Einschränkungen viel weniger einschneidend waren als im Ausland. Das hat Spuren hinterlassen, führte zu Wut und Aggressionen. Das entlädt sich nun in Protesten.
Berns Sicherheitsdirektor Reto Nause sprach von einem versuchten «Sturm auf das Bundeshaus». Hat das Bundesamt für Polizei (Fedpol) Anzeichen dafür?
Die Polizeihoheit liegt bei den Kantonen. Aber die Bedrohungslage hat sich sicher verändert, das Klima ist aggressiver geworden. Friedliche Demonstrationen sind ein Grundrecht. Das gehört zu unserer Debattenkultur. Die rote Linie liegt dort, wo Personen oder fremdes Eigentum zu Schaden kommen. Das kann man nicht tolerieren.
Wie gehen Sie mit der Bedrohungslage um? Bundesräte sind im Fokus.
Das ist so. Aber wir haben eine Aufgabe und eine Funktion, die wir ausüben müssen. Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen. Man muss ein Stück weit lernen, damit umzugehen, dass sich Bundesrätinnen und Bundesräte heute nicht mehr so frei bewegen können wie vorher. Ich hoffe, dass das nicht zum Dauerzustand wird. Wir müssen unsere Kultur verteidigen, in der sich Parlamentarierinnen, Regierungsräte und Bundesrätinnen frei bewegen können. Das ist ein hohes Gut. Wir sollten alles dafür tun, dass es so bleibt.
Hat der Bundesrat eine gute Politik gemacht in der Pandemie?
Ich möchte uns selbst keine Noten erteilen. Wir haben aber – das gilt für alle– nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Manchmal contre coeur. Wir mussten Entscheide fällen – zum Schutz der Bevölkerung, der Wirtschaft und der Funktionsfähigkeit des Landes. Wenn man entscheidet, nimmt man auch Fehler in Kauf. Manchmal muss man nachjustieren, das gehört dazu. Aber noch schlimmer ist es, in der Krise gar nicht zu entscheiden. (aargauerzeitung.ch)
Es ist wirklich traurig, wie sich unsere Demokratie manchmal in Selbstauflösung befindet, wenn Randgruppen von Links oder Rechts gegen rechtmässig erlassene Regeln motzen (Gesetze, a.o. Massnahmen der Exekutive) anscheinend plötzlich nicht mehr konsequent demokratisch denken.
Wenn unsere GEWÄHLTEN POLITIKER persönlich bedroht und ständig beleidigt werden, dann sind wir am Ende der Demokratie angelangt.
Für deren Kontolle ist das Parlament zuständig, nicht der Mob.
Frust ist kein legitimer Grund für Gewalttätigkeit! Niemals!