Wenn in anderen Büros die sommerliche Ruhe einkehrt, beginnt für Anu Sivaganesan und ihr Team die strengste Zeit des Jahres. Täglich klingelt bei der Fachstelle Zwangsheirat das Telefon, welche die 36-jährige Juristin präsidiert. Am Apparat: Verzweifelte Mädchen und junge Frauen – oder deren enge Vertrauenspersonen.
In den heissen Monaten hat jenes Phänomen Hochkonjunktur, das Sivaganesan «Heiratsverschleppung» nennt, während es in den politischen Debatten im Bundeshaus als «Sommerferienheiraten» bezeichnet wird.
Bis zu 15 Mal pro Woche während der Sommerzeit melden sich Betroffene. Es sind in der Schweiz wohnhafte Mädchen oder junge Frauen – in Einzelfällen auch junge Männer –, die sich an die Fachstelle wenden. Sie sind oftmals in der Schweiz geboren oder hier aufgewachsen, gehen zur Schule, haben vielleicht eine Lehre angefangen, erste Schritte im Berufsleben unternommen, haben hier ihren Freundeskreis, ihre Vertrauenspersonen.
Die Anruferinnen melden sich aus den Sommerferien, in akuten Fällen sogar direkt aus dem Herkunftsland ihrer Eltern. Sie merken plötzlich, dass sie von ihren Familienangehörigen gegen ihren Willen zu einer Heirat gezwungen werden sollen: «Die Betroffenen sind in einer ihnen fremden Umgebung, sind ihrer Verwandtschaft ausgeliefert und haben niemanden, an den sie sich wenden können», erklärt Sivaganesan.
Hinzu komme, dass in der Heimat ihrer Eltern niemand den Widerstand der Betroffenen gegen die gegen ihren Willen erzwungene Heirat verstehen wolle: «In diesen Kontexten ist es die soziale Norm, dass die Betroffenen kein Selbstbestimmungsrecht bei der Frage der Eheschliessung haben.»
Immer wieder sehen sich die Beraterinnen und Berater der Fachstelle Zwangsheirat mit Fällen konfrontiert, in denen diese Heiratsverschleppung unter Vorspiegelung falscher Tatsachen stattfinden:
Die Fachstelle ist deshalb bestrebt, mit Sensibilisierungs- und Beratungstätigkeit solche Reisen im Vorhinein zu verhindern. Nicht immer ist dies möglich: Mit der Weigerung, in die Familienferien mitzufahren, gehen Betroffene je nach Situation ein akutes Gefährdungsrisiko ein.
Für solche Fälle hält die Fachstelle ein Formular für eine eidesstattliche Erklärung bereit. Damit können Unterzeichnende bezeugen, dass sie keine Absicht haben, zu heiraten und allfällige Eheschliessungen im Ausland gegen ihren Willen erfolgen. Dies hilft juristisch bei einer nachträglichen Annullierung der Ehe. Sie können zudem Kontaktdaten angeben und erleichtern es so der Fachstelle zusammen mit ihren Partnerorganisationen in rund 40 Ländern vor Ort Hilfe und Zuflucht bieten zu können.
Das Phänomen der Zwangsheirat ist schwer zu beziffern, die Dunkelziffer hoch. Die Fachstelle Zwangsheirat beriet in den Jahren 2017 bis 2023 zwischen 316 und 361 Fälle vertieft. In diesen Fällen waren jährlich zwischen 33 und 41 Prozent aktuell minderjährige oder zum Zeitpunkt der Heirat minderjährige Personen betroffen. «Betroffene stehen unter starkem Druck und der Schritt, sich an unsere Fachstelle oder andere Angebote zu wenden, stellt eine hohe Hürde dar», sagt Anu Sivaganesan.
In der Realität dürfte die Zahl der von Zwangsheirat Betroffenen deshalb deutlich höher liegen. Die strafrechtliche Verfolgung hinkt ebenfalls hinterher und die geltenden Gesetze decken nicht alle Fälle ab: Seit der Einführung des Straftatbestands per 1. Juli 2013 bis Ende 2023 gab es lediglich zehn Verurteilungen. Eine vom Parlament kürzlich beschlossene Änderung des Zivilgesetzbuchs (ZGB) soll hier Verbesserungen bringen.
Gemäss einer Studie im Auftrag des Justizdepartements Anfang der 2010er-Jahre waren am meisten Staatsangehörige von Balkanstaaten sowie aus der Türkei betroffen. Dies habe sich in jüngster Zeit geändert, sagt Sivaganesan. Bis 2021 führten albanischstämmige Betroffene aus Ländern wie Kosovo, oder Nordmazedonien die Rangliste an. Seither haben die Fallzahlen von Betroffenen mit Wurzeln in Afghanistan, Syrien sowie türkisch- und kurdischstämmigen Personen stark zugenommen.
Zwangsheiraten sind ein Phänomen, das in vielen unterschiedlichen kulturellen Kontexten in traditionell orientierten Familien vorkomme. Neben islamisch geprägten Gemeinschaften ist die Praxis etwa auch im Hinduismus, bei den Jesiden oder in christlichen Religionsgemeinschaften wie den Aramäern verbreitet.
Es sind Gemeinschaften, welche arrangierte Heiraten als soziale Praxis kennen.
Die Abgrenzung einer arrangierten Ehe von einer Zwangsheirat sei schwierig. Bei einer arrangierten Ehe dürften die Betroffenen zwar grundsätzlich Nein sagen zum vorgeschlagenen Ehepartner. «Doch in der Praxis ist diese Selbstbestimmung oft eingeschränkt. Alternative Lebensentwürfe, etwa homosexuelle Beziehungen oder der Wunsch, keine oder eine kinderlose Beziehung einzugehen, werden auch in diesem Kontext oft nicht akzeptiert.» Das sei ein Aspekt, dem die Fachstelle Zwangsheirat in ihrer Arbeit vermehrt Aufmerksamkeit schenkt.
Ein wichtiger Risikofaktor für eine Zwangsheirat sei die Religiosität des spezifischen Umfelds: «In jeder kulturellen Gemeinschaft gibt es liberalere und konservativere Familien.» In orthodox geprägten Familien beginne im Zusammenhang mit Beziehungen zum anderen Geschlecht schon früh eine starke Kontrolle. Ein wichtiger Moment sei das Einsetzen der ersten Menstruation.
Weil die Eltern dies als ihre Aufgabe ansehen, werde dann Zwang ausgeübt. Diesen Druck erlebten Jugendliche im elterlichen Erziehungssystem laut Anu Sivaganesan schon lange, bevor die Heiratsfrage virulent werde. Und internalisierten die bestehenden Einschränkungen, Kontrollen und Zwänge häufig. So erlebe sie in Beratungsgesprächen immer wieder, dass Jugendliche von Anfang an auf Beziehungen mit Personen ausserhalb des eigenen Kulturkreis verzichteten. Die Begründung: «Ich weiss ja schon, was sonst die Reaktion zu Hause wäre.»
In diesem Zusammenhang beobachte die Fachstelle Zwangsheirat auch häufig Fälle von «inverser Diskriminierung» in migrantischen Familien, wie es Sivaganesan nennt. «Erst kürzlich hatten wir mit Eltern zu tun, die ganz klar zum Ausdruck brachten, dass eine Beziehung ihrer Tochter mit einem Schweizer ohne Migrationshintergrund für sie inakzeptabel ist.»
Der erwähnte Fall spielte sich im Kontext einer in ihrer nahöstlichen Heimat unterdrückten christlichen Gemeinschaft ab. Diskriminierungserfahrungen religiöser und ethnischer Minderheiten sind laut Sivaganesan ein starker Treiber für Druck durch Eltern auf die Kinder. In der Schweiz, wo die eigene Religion und Kultur ohne staatliche Repression ausgelebt werden kann, sei der Zwang oftmals gross, durch eine Ehe mit einem Angehörigen der eigenen Gemeinschaft und durch Kinder zu deren Erhalt beizutragen.
In diesem Zusammenhang macht ihr eine Entwicklung Sorge, die die Fachstelle in den vergangenen Jahren verstärkt beobachtet: Die Zunahme von in der Schweiz vollzogenen religiösen Verlobungs- und Vermählungszeremonien, die gesetzeswidrig vor einer zivilstandamtlichen Trauung vollzogen werden, teilweise auch mit Minderjährigen. «Aus rein juristischer Sicht sind diese Verbindungen zwar wertlos, aber in den Augen des Umfelds der Betroffenen wird eine Ehe zur unumstösslichen Tatsache.»
Es brauche mehr Einsatz von kantonalen und kommunalen Behörden, solche Praktiken zu unterbinden:
Anu Sivaganesan kam im Alter von 12 Jahren aus Sri Lanka in die Schweiz. Ihre Familie aus der tamilischen Minderheit war vor dem Bürgerkrieg geflüchtet. Ihre Eltern waren in der alten Heimat gegen Widerstand des eigenen Umfelds eine Liebesheirat eingegangen, statt wie dort üblich eine arrangierte Ehe.
Ihr Erweckungserlebnis im Zusammenhang mit Zwangsheirat hatte Anu Sivaganesan im Alter von 14 Jahren, als eine Freundin im Gymnasium während der Sommerferien zu einer Heirat gezwungen worden: «Das war ein Schock».
Diese Erfahrung war eine der Faktoren für Sivaganesans schon in ihren Teenagerjahren beginnendes Engagement für Menschenrechte und Selbstbestimmung – und für ihren Entscheid, Jus zu studieren. Ihr sei ein freies, selbstbestimmtes Leben sehr wichtig: «Das ist ein universelles Menschenrecht und der tägliche Einsatz dafür ist sehr sinnstiftend», sagt Sivaganesan.
Eine Zwangsheirat sei eine schwerwiegende Verletzung des Selbstbestimmungsrechts. Diese Erkenntnis sei glücklicherweise unterdessen auch in der Schweizer Politik angekommen. Das sei noch vor zwanzig Jahren anders gewesen. «In ausländerfreundlichen, eher linken politischen Kreisen gab es eine zwar gutgemeinte Naivität, mit der das Thema aber verharmlost wurde», sagt Sivaganesan. Umgekehrt habe es in ausländerfeindlichen, eher rechten Kreisen die Tendenz, das Thema zu instrumentalisieren und ganze Migrationsgruppen zu verunglimpfen.
Sivaganesan betont, dass Zwangsheiraten nicht einfach eine Folge von ungenügender Integration seien und mit besserer Integration der entsprechenden Gemeinschaften automatisch verschwinden: «Unser Verständnis von erfolgreicher Integration ist zu eng auf den Spracherwerb und die Arbeitstätigkeit fokussiert.»
Das Phänomen komme in Familien vor, die seit Jahrzehnten in der Schweiz lebten und gemäss diesen «sozioökonomischen Kriterien» als gut integriert erscheinen. Sivaganesan appelliert:
Diesbezüglich sei man in den letzten Jahren bereits ein gutes Stück weitergekommen. Auch dank der Bemühungen der Fachstelle Zwangsheirat sei es gelungen, den Diskurs über das Thema zu versachlichen und das ganze politische Spektrum für die Notwendigkeit der Bekämpfung von Zwangsheiraten zu sensibilisieren.
Sivaganesan illustriert diesen Erfolg mit den parlamentarischen Vorstössen der letzten Jahre: Die damalige SVP-Nationalrätin Natalie Rickli (ZH) reichte ab 2016 mehrere Vorstösse zum Thema Zwangsheiraten bei Minderjährigen ein.
Die kürzlich vom Parlament beschlossene Reform des Zivilgesetzbuchs im Bereich Minderjährigenehen wiederum stützt sich stark auf die Erkenntnisse aus einem Evaluationsbericht des Bundesrats ab, der auf einen Vorstoss von Grünen-Nationalrätin Sibel Arslan ab: «Von den Grünen bis zur SVP ist das Bewusstsein vorhanden, dass die Politik das Thema ernst nehmen sollte.»
Diese breite Allianz zeigte sich bei der Schlussabstimmung über die ZGB-Reform am 14. Juni dieses Jahres: National- und Ständerat stimmten der Vorlage einstimmig zu. (aargauerzeitung.ch)
Es kann nicht sein, dass die Elterngeneration nach Europa kommt, unter der Angabe von Flucht/Unterdrückung/Not, die friedlichen Möglichkeiten unserer Gesellschaften leben möchten, oft mit dem Zusatz "dass es die Kinder mal besser haben", aber dann insbesondere bei ihren Töchtern auf den Mechanismen/eisernen Regeln bestehen, von denen sie wegwollten - das passt nicht. Man kann es sich nicht "nach Gusto" ...1/2
Vielen Dank für die mutigen Helfer*innen, die jeweils besonders über die Sommerferien dieses traurige Kapitel publik machen & helfen!