Zwangsheirat in der Schweiz: Mädchen flieht vor Eltern – doch hat es alles nur erfunden?
Es ist Freitag, der 2. Juli 2021, als eine Frau gegenüber einer Schulsozialarbeitern anonym einen schwerwiegenden Verdacht äussert: Einem 13-jährigen Mädchen aus Afghanistan drohe eine religiöse Zwangsheirat. Das Szenario ist realistisch. Die grösste Gruppe, die sich bei der Fachstelle Zwangsheirat (siehe Kasten) beraten lässt, sind Afghaninnen.
Die Schule erstattet eine Gefährdungsmeldung bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) im luzernischen Emmen. Dann nimmt ein Drama seinen Lauf, in dem das Mädchen seine eigenen Aussagen mehrmals revidieren wird nach dem Motto: Ja. Nein. Nein. Doch. Doch. Doch. Doch nicht.
Die alarmierte Schulsozialarbeiterin kontaktiert die afghanische Schülerin sofort. Diese berichtet, schon am folgenden Tag sei eine Verlobungsparty geplant. Der designierte Bräutigam: ein 17-jähriger afghanischer Asylbewerber aus dem Kanton St.Gallen. Am Samstag taucht die Luzerner Polizei bei der afghanischen Familie auf. Eltern und Tochter verneinen die geplante Hochzeit. Ende Juli gibt die Tochter auch der Kesb Entwarnung - um kurz darauf in einem weiteren Gespräch exakt das Gegenteil zu behaupten. Sie habe ihr drohendes Schicksal nur auf elterlichen Druck in Abrede gestellt. Der zukünftige Gatte habe sogar an mehreren Wochenenden in ihrem Zimmer übernachtet und gegen ihren Willen sexuelle Handlungen vorgenommen. Gegenüber der Fachstelle Zwangsheirat bestätigte sie die drohende Zwangsheirat: Die Eltern hätten einen Mann für sie bestimmt, das gehöre in ihrer Kultur dazu.
Die nächste Etappe des Dramas spielt sich am 24. Dezember 2021 ab. Bei der Einvernahme vor der Jugendanwaltschaft zieht das Mädchen alle Anschuldigungen zurück. Sie habe die Story mit der Zwangsheirat frei erfunden, weil sie mit ihrem damaligen Freund habe zusammensein wollen. Die Jugendanwaltschaft verurteilt sie in der Folge wegen Irreführung der Rechtspflege.
Die Geschichte ist damit noch nicht fertig erzählt. Das unterdessen 15-jährige Mädchen lebt heute in einer sozialpädagogischen Einrichtung, im Volksmund Kinderheim, und hat einen Beistand. Die Kesb hat den Eltern am 9. November 2021 das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen. Es ist eine der stärksten Massnahmen im Kindesschutz. Sie bedeutet: Wann, ob und unter welchen Bedingungen das Mädchen allenfalls wieder bei ihren Eltern und ihren zwei Brüdern wohnen darf, entscheidet die Kesb, nicht die Eltern.
Zuerst mit Einverständnis der Eltern in Kinderheim
Das Vertrauen in der Eltern-Tochter-Beziehung ist offensichtlich zerrüttet. Das manifestierte sich im Sommer 2021, als die Behörden über den Verdacht der Zwangsheirat erfuhren. Während den Abklärungen zu dem Fall lief das Mädchen plötzlich von zu Hause weg. Die Polizei fand es später bei ihrem zehn Jahre älteren afghanischen Freund. Als sich die Schülerin weigerte, ins Auto der Eltern zu steigen, brachte sie die Polizei am 13. August 2021 in ein Kinderheim - mit dem Einverständnis der Eltern. Die nächste Eskalationsstufe folgte bald: Am 31. Oktober tauchte das Mädchen abermals unter und wurde polizeilich gesucht. Nach 10 Tagen auf der Flucht kehrte es selbstständig zurück ins Heim. Die Eltern vermuteten, der Freund stecke hinter dem temporären Verschwinden.
Für die Kesb, so steht es in einem Urteil des Luzerner Kantonsgerichts, ist unterdessen nicht mehr klar, ob die Eltern die freiwillige Platzierung noch mittragen. Angesichts der verworrenen Situation kommt sie zum Schluss: Am besten kann sie die Tochter vor einer Gefährdung schützen, wenn die Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht verlieren und das Kind im Heim bleibt. Spätestens im Oktober 2023, so hält es die Kesb in der Verfügung fest, wird die installierte Beiständin eine Einschätzung abgeben, ob die Fremdplatzierung noch notwendig ist.
Natürlich blieben der Kesb die widersprüchlichen Angaben des Mädchens nicht verborgen. Man könne aber nicht ausschliessen, dass ein erlebtes Trauma dahinter stecke. Mehrere Experten und Expertinnen, darunter die Fachstelle Zwangsheirat, hätten zu diesem Zeitpunkt Handlungsbedarf ausgemacht. Eine Zwangsheirat stelle nicht nur eine Kindeswohlgefährdung dar, sondern einen konkreten Übergriff auf die körperliche, geistliche und sittliche Integrität des Kindes. Wichtig ist: Mit ihren Entscheiden verfolgt die Kesb das Ziel, das Kindswohl zu schützen. Ein konkretes Verschulden oder eine strafrechtliche Verurteilung der Eltern ist dafür nicht nötig.
Die Eltern reagierten konsterniert auf den Entscheid der Kesb und finden es unfassbar, dass sich die Kesb auf Aussagen eines Mädchens stützt, welches ihre Meinung wöchentlich ändere und den Behörden immer neue Abenteuergeschichten auftische ohne jeglichen Beweis. Das grösste Problem orteten die Eltern darin, dass die Tochter unbemerkt aus dem Heim davonschleichen konnte. Dieser Gefahr könne man nicht mit dem Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrecht begegnen. Mit einem Rekurs blitzten sie aber vorerst ab. Das Kantonsgericht Luzern bestätigte am 1. April 2022 das Verdikt der Kesb.
Bundesgericht rüffelt Luzerner Kantonsgericht
Doch jetzt gibt es eine Wende in dem Fall. Das Bundesgericht hat in einem Urteil von Mitte Juli die Beschwerde der Eltern gutgeheissen. Es wirft dem Luzerner Kantonsgericht vor, keine eigenen Abklärungen getroffen zu haben, um Licht in die widersprüchliche Geschichte zu bringen. Weil dies unterblieben sei, lasse sich der Aufhebung des Aufenthaltsbestimmungsrechts nicht rechtfertigen. Jetzt muss das Kantonsgericht einen neuen Entscheid in der Sache fällen, der Ausgang bleibt offen. Dass sich die Kesb in einem Dilemma befand, anerkennen die Bundesrichter: Die Aussagen des Kindes würden die Massnahme zwar nicht stützen, sie sei aber auch nicht offensichtlich unbegründet.
Kurt Felder ist Präsident der Kesb Kreis Emmen. Zum Einzelfall äussert er sich nicht. Er sagt, die Kesb sei selten mit dem Phänomen Zwangsheirat konfrontiert - möglicherweise, weil solche Fälle oft gar nicht bis zu der Behörde durchdrängen. Felder vermutet, dass sich betroffene Jugendliche nicht gegen ihre Eltern stellen wollen. Vor einer hohen Dunkelziffer bei dem Thema geht auch der Bundesrat aus. Anu Sivaganesan, Präsidentin der Fachstelle Zwangsheirat, nennt einen weiteren möglichen Grund für die Zurückhaltung. Wenn die Kesb aktiv wird, erhalten nämlich die potenziellen Täter Akteneinsicht und sind damit im Bild über die Bemühungen ihrer Kinder, eine Zwangsheirat zu vereiteln.
Während der neuerliche Entscheid des Kantonsgerichts Luzern noch aussteht, sehen sich die Eltern in ihrer Argumentationslinie gestärkt. Im letzten Dezember stellte die Staatsanwaltschaft Luzern ein Verfahren gegen sie ein. Sie kam zum Schluss, die wenig belastbaren Vorwürfe der Tochter reichten nicht für eine solide Anklage wegen Zwangsheirat. Der Bundesgerichtsentscheid lässt erahnen, dass auch ein Bericht der Fachstelle Zwangsheirat vom Juli 2022 eher im Sinne der Eltern ausfällt.
Anu Sivaganesan äussert sich nur allgemein zur Geschichte des Teenagers, denn die Fachstelle ist an die Schweigepflicht gebunden. Aufgrund der vorhandenen Akten sei der Entscheid des Bundesgerichts nachvollziehbar, sagt sie. Es sei jetzt wichtig, dass dieser Fall genauer geprüft und noch einmal vertieft abgeklärt werde. Dass Betroffene gegenüber den Behörden manchmal widersprüchliche Angaben machen wie das afghanische Mädchen, überrascht Sivaganesan nicht: «Die betroffenen Kinder stecken in einem Loyalitätskonflikt mit ihren Eltern.»
Gerade in den Sommermonaten herrscht Hochbetrieb. Dann versuchen oft Eltern mit Migrationshintergrund während den langen Ferien im Heimatland ihre Kinder unter die Haube zu bringen. In der Schweiz sind zu etwa 80 Prozent Frauen von Zwangsheiraten betroffen. Bei den Männern handelt es sich zum Teil um Homosexuelle, die in eine heterosexuelle Beziehung gedrängt werden. Beunruhigend auch: Der Anteil an minderjährigen Opfern ist in den letzten Jahren gestiegen. Die Betroffenen sind verschiedenen Formen von physischer Gewalt und Drohungen ausgesetzt. Oft üben Mütter psychischen Druck aus, aber auch Geschwister oder die erweiterte Verwandtschaft können beteiligt sein, eine Heirat zu erzwingen.
Gemäss einer Studie des Bundes aus dem Jahr 2012 sind am häufigsten Menschen aus dem Balkan, der Türkei und Sri Lanka von Zwangsheiraten betroffen. Diese Ergebnisse decken sich mit der Erfahrung aus der Beratungspraxis, sagt Sivaganesan. Es hat aber Verschiebungen gegeben. Seit 2021 stellen nicht mehr Menschen aus dem Balkan die grösste betroffene Gruppe dar, sondern Afghaninnen.
Seit 2013 ist Zwangsheirat als eigenes Delikt im Strafgesetzbuch aufgeführt. Bis jetzt wurden in der Schweiz deswegen aber lediglich sieben Personen verurteilt. Woher rührt die Diskrepanz zwischen den wenigen Verurteilungen und der konstant hohen Beratungstätigkeit der Fachstelle Zwangsheirat? «Wir machen auf das Strafrecht aufmerksam. Doch viele Betroffen verzichten auf eine Anzeige, weil sie Angst haben, die ganze Verwandtschaft gegen sich aufzubringen, wenn sie sie die Justiz einschalten. Manchmal auch, weil sie die Tür zu ihrer Familie nicht ganz schliessen möchten», sagt Sivaganesan.
