Der EGMR ist in seinem am Dienstag öffentlich bekannt gegebenen Urteil zum Schluss gelangt, dass der Verein zur Beschwerde zugelassen ist, nicht aber die vier Einzelklägerinnen. Die Grosse Kammer hat die Schweiz wegen Verletzung von Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und 6 (Recht auf ein faires Verfahren) verurteilt.
Die Reaktionen auf das Urteil sorgen – Überraschung! – für unterschiedliche Reaktionen aus der Schweizer Polit-Landschaft. Folgend alphabetisch geordnet die verschiedenen Player:
Bundespräsidentin Viola Amherd hat sich vom Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gegen die Schweiz überrascht gezeigt. Dem Land seien nämlich Nachhaltigkeit, Biodiversität und das Nettonullziel «sehr wichtig», sagte Amherd in Wien.
Die Begründung des Urteils zu einer Klage einer Gruppe von Schweizer Seniorinnen wegen zu wenig Klimaschutz interessiere sie, sagte Amherd bei einer Pressekonferenz mit dem österreichischen Bundespräsidenten Van der Bellen anlässlich ihres Besuchs in Österreich. Sie sei daher gespannt, die Details des Urteils zu lesen, und werde danach eine Stellungnahme abgeben.
Die Kommission der Europäischen Union (EU) hat zurückhaltend auf das Urteil des EGMR in Sachen Klimafragen reagiert. Die Kommission werde sowohl das Urteil gegen die Schweiz wie auch die zwei abgewiesenen Beschwerden sorgfältig studieren, sagte ein Sprecher der EU-Kommission am Dienstag auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA in Brüssel.
Unabhängig von den juristischen Argumenten würden die Fälle an den hohen Stellenwert erinnern, den die Bürgerinnen und Bürger dem Klimaschutz beimessen würden, sagte der Sprecher weiter. Die EU sei mit ihrem Klimagesetz auf dem Weg, die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen.
Während alle 27 Mitgliedstaaten der EU die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet haben, ratifizierte die EU den Text bis anhin nicht. Allerdings werden in diesem Zusammenhang Gespräche geführt. Diese seien «fortgeschritten», hiess es aus Kommissionskreisen. Wann mit einem Beitritt zu rechnen ist, blieb offen.
Für den Berner FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen ist das Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes in Strassburg «völlig unverständlich». Das Gericht verstehe die Schweizer Demokratie nicht, sagte er mit Verweis auf das 2021 an der Urne abgelehnte revidierte CO2-Gesetz.
Das Urteil ist des #EGMR ist unverständlich und er versteht offensichtlich die direkte #Demokratie der Schweiz nicht.
— Christian Wasserfallen (@cwasi) April 9, 2024
Wir setzen Massnahmen im CO2-Gesetz bereits seit Jahren erfolgreich um.
In der Schweiz gibt es umfassende demokratische Mittel, um politisch Einfluss zu nehmen.
Den Bundesrat allein für dieses Nein verantwortlich zu machen, sei «ein Witz», sagte Wasserfallen am Dienstag auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Und dank der direktdemokratischen Mittel könnten sich in der Schweiz die Menschen mit ihren Anliegen bemerkbar machen.
Dem Urteil aus Strassburg mag Wasserfallen nicht allzu viel Bedeutung beimessen. Es sehe relativ politisch motiviert aus, sagte er. Ausserdem habe die Schweiz seit Jahren ein CO2-Gesetz mit erfolgreichen Klimaschutz-Massnahmen. Die neuste Revision werde hoffentlich bald in Kraft treten.
Für den Berner GLP-Nationalrat Jürg Grossen ist die Rüge der Strassburger Richter an die Adresse der Schweiz keine Überraschung: «Wir wissen, dass wir nicht genug für das Klima machen.» Es sei aber richtig, dass das nun auch international festgestellt worden sei.
Die Schweiz mit ihren hohen Klimaschulden und gleichzeitig vielen Mitteln in Sachen Technologie und Wissen müsse in Klimafragen ein Vorbild sein, sagte Grossen am Dienstag auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Und weiter:
Zentral dafür sei das am 9. Juni zur Abstimmung kommende Stromgesetz, das den Ausbau erneuerbarer Energien im Inland fördern will. Das CO2-Gesetz, das Grossen als «zahnlos» bezeichnet, sei dagegen ein Beispiel dafür, dass die Schweiz zu wenig mache in Sachen Klimaschutz. Das Gesetz sei jedoch «besser als nichts».
Laut Grossen braucht es insbesondere in den Kantonen weitere Anstrengungen zur Bekämpfung des Klimawandels. Er denkt dabei beispielsweise an die Förderung von Gebäudesanierungen.
Die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg hat die Verurteilung der Schweiz durch den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof begrüsst. Diese «ist erst der Anfang in Sachen Klimastreitfälle», erklärte sie am Dienstag in Strassburg.
«Überall auf der Welt bringen immer mehr Menschen ihre Regierungen vor Gericht, um sie für ihre Handlungen zur Rechenschaft zu ziehen. Unter keinen Umständen dürfen wir zurückweichen, wir müssen noch mehr kämpfen, denn das ist erst der Anfang», sagte Thunberg nach dem Urteil.
Für die Grünen bedeutet das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) einen Paradigmenwechsel. Das Recht auf eine gesunde Umwelt sei gemäss dem Urteil ein Grundrecht, sagte Parteipräsidentin Lisa Mazzone.
Es sei das erste derartige Urteil für ein Land, sagte Mazzone am Dienstag in Bern vor den Medien. Es setze ein klares und verbindliches Ziel, lasse aber die Mittel offen, um dieses zu erreichen. Den Grünen reicht nicht, was im Klimaschutzgesetz steht, das vergangenes Jahr an der Urne angenommen wurde.
Für die Landwirtschaft, die Finanzbranche und den Luftverkehr gebe es keine Emissionsziele, sagte Grünen-Fraktionschefin Aline Trede (BE). Ebenso wenig habe die Schweiz das von den Grünen bereits früher geforderte Kohlenstoff-Budget. Dieses müsse auch graue Emissionen enthalten.
Weiter fordern die Grünen eine Klimaverträglichkeitsprüfung sowie eine CO2-Verträglichkeitsprüfung bei neuen und revidierten Gesetzen und eine Grundlage für die Zulässigkeit von Klagen zum Klima. Klagen sollten künftig nicht mehr an die direkte Betroffenheit geknüpft werden müssen, sagte Trede dazu.
Der Waadtländer Nationalrat Raphaël Mahaim sagte dem Westschweizer Fernsehen RTS, das Urteil stelle «zum ersten Mal die Verbindung zwischen den Grundrechten und der Klimaveränderung her».
Mahaim sagte, dass der Bund in Bezug auf das Klima «nicht genug tut», und deshalb liege eine Verletzung der Menschenrechte im Sinne von Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention vor, der das Recht auf Gesundheit schütze.
Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nimmt der Klimastreik die Schweizer Politik in die Pflicht. Der heutige Entscheid stelle den Parlamenten kein gutes Zeugnis aus, hiess es in einer Medienmitteilung am Dienstag.
«Weltweit werden heute die Klimaziele verfehlt. Dies hat einen direkten Einfluss auf unser Leben und das der zukünftigen Generation. Wenn wir über die Gerichte die Parlamente zwingen müssen, unsere Lebensgrundlagen nicht zu zerstören, ist dies zwar ein Armutszeugnis, aber ein notwendiges Übel», schreibt der Klimastreik.
«Wir erwarten vom Bundesrat und dem Parlament, dass alles in Gang gesetzt wird, um das weltweite Ziel einer Begrenzung des Temperaturanstiegs von 1,5 Grad einzuhalten» und «Wir können es uns nicht leisten, noch einmal zehn Jahre vor Gericht zu kämpfen, bis die Dringlichkeit der Klimakrise juristisch anerkannt und dementsprechend gehandelt wird», liessen sich verschiedene Vertreter des Klimastreiks im Communiqué zitieren.
Die Schweizerische Energiestiftung SES bezeichnet das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu den Klimaseniorinnen als historischen Sieg. Das Urteil sei richtungsweisend, schrieb die SES auf X.
Historisch! Der heutige Sieg der @KlimaSeniorin am Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist ein Meilenstein für den Klimaschutz. Das bahnbrechende Urteil ist richtungsweisend. 1/3 pic.twitter.com/8Bn5ZUEu9X
— Schweizerische Energie-Stiftung (SES) (@energiestiftung) April 9, 2024
Damit sei nun offiziell, dass die Schweiz zu wenig getan habe, um die Bevölkerung in Bezug auf die Klimakrise zu schützen, so die SES.
Die Zürcher Nationalrätin und Co-Präsidentin der SP, Mattea Meyer, zeigt sich auf X dankbar für den Einsatz der Klimaseniorinnen. Die Entscheidung sei wegweisend für den Klimaschutz.
Wegweisende Entscheidung für den Klimaschutz!
— Mattea Meyer (@meyer_mattea) April 9, 2024
Der Europäische Menschenrechts-Gerichtshof rügt auf Klage der @KlimaSeniorin die Schweiz für ihre Untätigkeit gegen die Klimakrise.
Danke für euer hartnäckiges, erfolgreiches Dranbleiben für einen zukunftsfähigen Planeten!💥
«Danke für euer hartnäckiges, erfolgreiches Dranbleiben für einen zukunftsfähigen Planeten», schreibt Meyer. In einem Communiqué der Partei legt sie noch einmal nach:
Und weiter: «Der Klimaschutz und eine sichere Energieversorgung sind die grössten Aufgaben unserer Generationen. Wir müssen den ökologischen Umbau der Schweiz mit öffentlichen Investitionen vorantreiben.»
SVP-Nationalrat Mike Egger (SG) bezeichnete das EGMR-Urteil am Dienstag auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA als «lächerlich». Es sei immer gefährlich, wenn Gerichte Politik machten.
Die Schweiz mache gute Umweltpolitik und investiere jedes Jahr Milliarden von Franken – mit Erfolg, sagte Egger. «Wir haben uns in vielen Punkten verbessert und den Treibhausgasausstoss pro Kopf und auch den Erdöl- und Stromverbrauch deutlich gesenkt.» Dies bestätigten Zahlen des Bundes.
Das Urteil aus Strassburg berücksichtige jedoch Aspekte wie die «massive Zuwanderung» in den vergangenen zwanzig Jahren nicht, sodass die in der Schweiz ergriffenen Massnahmen unterschätzt würden. Egger sieht aus diesen Gründen «definitiv keinen zusätzlichen Handlungsbedarf» nach der Rüge gegen die Schweiz. Umweltminister Albert Rösti habe bereits eine klare Strategie, wie er Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen angehen wolle.
Für den Verein Klimaschutz bestätigt das heutige Urteil ein schon lange bestehendes Anliegen des Vereins. Die Schweiz mache nach wie vor zu wenig für den Schutz ihrer Bevölkerung vor den Folgen der Klimakrise.
«Das heutige Urteil bestätigt, worauf der Verein Klimaschutz schon lange hinweist», so der Verein auf X.
Der Sieg der Klimaseniorinnen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist laut dem Umweltschutzverband WWF ein Erfolg für alle Generationen. Es sei ein weitreichender Präzedenzfall, schreibt WWF Schweiz auf X.
Wow! Was für ein Urteil in Strassburg: Die schwache Schweizer #Klimapolitik verletzt die #Menschenrechte. Der Sieg der @KlimaSeniorin vor Gericht ist ein Erfolg für ALLE Generationen und ein weitreichender Präzedenzfall. Offizeller geht's kaum: Die Schweiz muss endlich handeln.
— WWF Schweiz (@WWF_Schweiz) April 9, 2024
«Offizieller geht's kaum: Die Schweiz muss endlich handeln», so der Verband.
Update folgt ...
(jaw/sda)
Ich finde es gefährlicher, wenn intellektuell unqualizifierte Berufslobbyisten Politik machen.