Es gibt zwei Nemo-Momente. Dazwischen liegen 2953 Tage.
Der erste Nemo-Moment ist der 28. Januar 2016. Er beginnt mit: «Ah-Ah. Yeah, Ahhhh, Lug-Lug-Lug.» Dann legt Nemo los. 4 Minuten 20 Sekunden. Dicke Zahnspange. Dünne Arme. 16-jährig.
Es ist das Klassentreffen der Schweizer Rapszene. Am Bounce-Cypher sind viele Platzhirsche mit Geltungsdrang - und ein Neuling: Schon nach dem ersten der beiden Tracks hatte Nemo alle im Sack. Ein Video vom Auftritt geht innert den Landesgrenzen viral. Rund 600'000 Aufrufe auf Youtube.
Der zweite Nemo-Moment ist der 29. Februar 2024. Es beginnt mit: «Whoa-oh-oh. Welcome to the show, let everybody know.» Dann legt Nemo los. 3 Minuten 14 Sekunden. Bunte Kostüme. Feine Gesichtszüge. 24-jährig.
Es wird bekannt, dass Nemo für die Schweiz am Eurovision Song Contest antritt. Ein Wettbewerb für verglühende Sternchen oder für solche, die gar nie richtig aufgegangen sind. Nemo passt nicht so recht ins Schema. Schon nach der ersten Minute hat Nemo alle im Sack. Der Song geht viral, diesmal international. Alleine auf Spotify über 70 Millionen Aufrufe.
In beiden Nemo-Momenten ist spürbar, dass hier gerade etwas Spezielles passiert.
Und sie erklären auch, wie es zum Sieg von Nemo in Malmö kam. Hier trifft Talent auf Unbekümmertheit und Charme. Nach dem grossen Triumph zerbricht Nemo in der Euphorie sogar aus Versehen die Trophäe.
Beim nächsten Mal wird der Preis in Basel vergeben. Dank Nemo findet der Eurovision Song Contest 2025 in der Schweiz statt.
Das heisst auch: Seit Mai steht Nemo im Fokus der Weltöffentlichkeit. Dazu kommt noch das Outing als nonbinäre Person. Farbige Fingernägel und Röckchen triggern gerade konservative Geister zuweilen.
Nemo selbst macht sich eher rar. Weder gibt es gross zusätzliche Konzerte, noch zeigt sich Nemo an vielen Anlässen, noch gibt es täglich Interviews mit dem neuen Superstar der Schweiz.
Lange scheint es so, als gehe Nemo mit all dem Druck gut um. Erst in den letzten paar Wochen häufen sich leichte Risse und Negativschlagzeilen. Fotoverbot an Konzerten. Abgesagte oder abgebrochene Interviews. Ganz allgemein: Wo steckt Nemo? Es sind sehr viele Erwartungen und Ansprüche, die auf den Schulten von Nemo lasten. Aber Nemo weiss, wie man mit Druck umgeht.
Schon länger. Dass es Nemo geschafft hat, nach dem Nemo-Moment 2016 noch einen zweiten Nemo-Moment 2024 zu schaffen, ist eine Leistung. Kaum etwas ist schwieriger, als all den Versuchungen zu widerstehen, die einem nach einem solchen Erfolg wie beim Cypher hingeworfen werden. Gerade mit 16 Jahren. Nemo war der Kuchen. Alle wollten ein Stück. Nemo hatte keine Lust, Kuchen zu sein.
Nicht Sony, Universal, Warner oder wie sie alle heissen werden das erste Label von Nemo, sondern Bakara. Das mittelkleine Label aus Zürich ist die Heimat von Lo & Leduc, Steff La Cheffe, Manillio. Es ist der sympathische Gegenentwurf zu all der Wichtigtuerei in dieser Branche. Im Gespräch mit dieser Zeitung sagte Nemo einst, dass Bakara das einzige Label war, das extra nach Biel kam. Alle andere schickten Einladungen für Treffen in Zürich.
Die Versprechungen der grossen Plattenfirmen waren gewiss lukrativer und ausgeschmückter. Die Pläne hochtrabender. Dass Nemo sich trotzdem nicht für die Big Players entschieden hat, erweist sich als eine der wichtigsten Entscheidungen seiner Karriere. Bei den grossen Plattenfirmen wird die Geschäftsbeziehung rasch toxisch, wenn die Künstlerinnen nicht mehr wie im Businessplan gewünscht performen. Geduld ist im schnelllebigen Musikgeschäft keine sonderlich weit verbreitete Tugend.
Die guten Entscheidungen sind etwas, was sich durch Nemos Karriere zieht. Die grösste Stärke von Nemo ist es, Fehler zu vermeiden. Oder anders gesagt: Nemo macht sehr wenig falsch. Bis heute. All die grossen Karriere-Minenfelder umdribbelt Nemo weiterhin souverän.
Sofort eine Welttournee starten nach dem ESC-Sieg? Keine Eile, das kommt dann schon. Rasch neue Musik veröffentlichen? Nein. Warum auch? Hört doch noch ein bisschen den Hit. In zahlreichen Interviews die Welt erklären? Lieber nicht. Das ist grad alles zu aufgeladen.
Viele aufgehenden Sterne werden schlecht beraten und haben daher das Gefühl, sie müssten innert kurzer Zeit möglichst hell leuchten. Dabei verglühen sie meist. Nachhaltig am Himmel zu bleiben, ist dagegen eine grosse Kunst.
Natürlich: Auch Nemo macht Fehler. Das abgebrochene Interview mit dem «Bieler Tagblatt» war nicht sonderlich souverän. Das Fotoverbot für professionelle Fotografen an einigen Konzerten auch nicht. Souverän ist dagegen der Umgang mit dem aufbrausenden Shitstürmchen: Nemo gibt ihm schlicht keinen zusätzlichen Wind.
Nemo verliert sich nicht in ellenlangen Rechtfertigungen auf Social Media. Auch stilisiert Nemo sich nicht irgendwie zum Opfer einer Kampagne. Als Kim de l'Horizon, Buchpreisträger mit dem «Blutbuch», angefeindet wird, geht de l'Horizon in die Offensive und sorgt selbst für Stürme. Nemo wartet dagegen ab, bis Stürme abgeklungen sind. Das Nemo-Universum bleibt unbeschadet, die meisten Fans bekommen von den Fehlern gar nichts mit.
Die ganz grosse Empörung gibt es vor allem bei jenen, die eh schon empört sind. Darüber, dass Nemo kein «er» sein will. Darüber, dass Nemo Frauenkleider trägt. Darüber, dass Nemo am ESC die Flagge der Nonbinären schwenkte. Darüber, dass Nemo nicht in jene Raster passt, die man sich so einfach hingelegt hat. Das Fotoverbot und das abgebrochene Interview waren hier nur die Bestätigung für das, was der harte Kern der Nemo-Gegner immer schon wussten.
5000 Nemo-Fans sind in Luzern an einem warmen Sommerabend. Die Veranstalter müssen das Gelände absperren, so viele wollen rein. Es ist ein Gratis-Konzert im Rahmen eines Festivals, geplant lange vor dem ESC-Sieg. Bereits eine Stunde vor dem Konzert sind die besten Plätze besetzt. Eine Moderatorin versucht, die Leute zu animieren, doch nach da oder dort zu laufen, da es dort oder da viel besser... Es hört niemand zu. Alle warten auf Nemo.
Nemo kommt. Und startet mit dem ersten Nemo-Moment. Jenem Track vom Cypher 2016. «Sie sägä Run Forrest, Run / du chasch hate und zwiiflä / meine bisch gschidär, abär i renne wiiter». Passt auch 2024. Und weiter: «I machä immer no, was i wott / und trotzdäm loufts grad irgendwie mit däm Job». Läuft immer noch. Die Menge jubelt.
Das Konzert ist eine Reise durch die Karriere von Nemo, von Nemo-Moment 1 zu Nemo-Moment 2. Die Pop-Nümmerchen «Himalaya» und «Ke Bock» animieren zum Tanzen. Viele der Songs sind schon älter. Das erinnert auch daran, dass es länger ruhig um Nemo war. Zumindest in der Öffentlichkeit. Zwischen den beiden sichtbarsten Punkten flog Nemo auch mal unter dem Radar. Untätig war Nemo nicht, hat Lieder für andere Künstler geschrieben. «Unglaublich talentiert», beschreibt ein bekannter Produzent Nemo als Songwriter.
Am Konzert in Luzern kumuliert sich alles auf den zweiten Nemo-Moment hin. Auf «The Code». Natürlich. «Passet ufenang uf», sagt Nemo mehrmals ins Mikrofon. Tragt Sorge zueinander. Am Konzert. Und auch sonst im Leben. Das kann man als «woke» oder sonst wie bezeichnen. An diesem Abend in Luzern spürt das Publikum, dass Nemo das wirklich so meint. Es hat, bei allem überzuckerten Glitzerpomp, tatsächlich etwas Berührendes.
«Whoa-oh-oh. Welcome to the show, let everybody know.» Er ist da, der Moment. Nemo rennt über die Bühne, die Töne sitzen, die Band groovt grandios. «I just gave it some time / Now I found paradise», singen Nemo und 5000 weitere Menschen unter dem KKL-Dach. Ziemlich viele Leute sind gerade ziemlich glücklich.
Die grosse Europa-Tournee ist geplant. Von März bis April. Köln, London, Amsterdam, Wien, und mehr. Neue Lieder hat Nemo auch geschrieben. Eine Single soll im Herbst erscheinen. Ein weiterer, dritter Nemo-Moment?
Das Konzert in Luzern ist vorbei. Nemo kommt noch auf die Seite der Bühne. Schreibt Autogramme auf T-Shirts, auf Arme, auf Karten, auf Becher. Irgendwann ist Nemo wieder weg. Beim Anstehen für ein Bier oder ein Glace leuchten viele Augen. Sie haben alle ihren Nemo-Moment. (aargauerzeitung.ch/lyn)