Meine Lust an einem spöttischen Wortspiel als Beginn eines möglichen Verrisses ist bereits nach den ersten Sätzen für immer weggeblasen. Das Buch noch nicht aufgeklappt, las ich den Titel des Romans: «Walzer für Niemand», und der falsche Akkusativ lag mir bereits als Kalauer auf der Zunge: Ja, ja, ein autobiografischer Roman einer Musikerin, den niemand zu interessieren braucht!
Also ein verzichtbarer Flop? Weit gefehlt, schon nach zwei Seiten will ich nur noch jubeln: So ungeheuer begabt, so verblüffend stilsicher, so scharfsinnig, so musiktrunken! Diese Künstlerin ist ein grosses Geschenk, nicht nur für die Musik, sondern auch für die Literatur!
Dieser Roman ist ein wehmütiger, schmerzhafter Monolog für eine Person, die als stummer Schatten das Aufwachsen der Ich-Erzählerin begleitet. Treu und wirklich in allen Lebenslagen an ihrer Seite: Vom kindlichen Musikhören auf dem Teppich liegend über das spätere Schuleschwänzen bis zur entscheidenden nächtlichen Autofahrt von Zürich nach Paris zum Auftritt im Bataclan-Club.
Dort startet ihre musikalische Karriere. Viel Autobiografisches steckt im Roman. Und der Abschied von der Jugend wird vollzogen. In einem früheren Hunger-Song mit demselben Titel «Walzer für Niemand» sass dieser Niemand als stummes Rätsel am Frühstückstisch. Im Roman nun verschwindet dieser letztlich spurlos aus ihrem Leben.
Ob das eine reale Person ist oder eine imaginäre, geisterhafte Begleitung, etwa das Spiegelbild der einsamen Ich-Erzählerin, lässt Sophie Hunger im Roman geschickt interpretationsoffen. Es ist jedenfalls eine Zäsur, eine schmerzhafte Initiation. Das Bühnenleben entzweit die Gefährten – oder wird die gespaltene Persönlichkeit dadurch endlich zu einer Einheit? Steckt darin der Kern des Erwachsenwerdens?
Das passt alles wunderbar in das ohnehin magische Setting des Buches voller Ahnungen, Doppelungen, Spiegelungen und dem Bekenntnis zum Uneindeutigen der Poesie: Sprache mag die Ich-Erzählerin «nur in ihrer nebulösen, traumwandlerischen Form», nicht «als Mittel der Denunziation». Denn wer ein Leben zu einer Geschichte zurechtbiege, lüge, heisst es einmal in diesem Roman voller poetologischer Signale.
Nur schon mit diesem Erzählstrang wäre dieses Buch ein guter Roman geworden. Er ist aber viel mehr. Und das verdankt er dem dramaturgischen Geschick, der sprachlichen Virtuosität, dem grandiosen Einblick in eine Künstlerinnenseele und der kulturgeschichtlichen Reflexionstiefe. Das tönt jetzt ein wenig hochgestochen, nicht wahr? Keine Angst, Sophie Hunger schreibt zugänglich.
Sie erzählt im Grunde chronologisch von der frühen Kindheit bis zum Auftritt im Bataclan. Das ist spannend, weil die Ich-Erzählerin immer wieder den späteren Bruch der symbiotischen Freundschaft vorausahnt – und psychologisch clever, weil sie diese als «besorgniserregende Schicksalsgemeinschaft» erkennt. Und dann findet Hunger auch noch das präzise musikalische Bild dafür: gefangen in der Auslaufrille einer Vinyl-Schallplatte, «für immer und ewig».
Virtuos schlüpft Hunger zudem mit der Erinnerung der Ich-Erzählerin in die Phasen des Aufwachsens. Sprache wird zum Spiegel des Bewusstseins: Zunächst ist da die magische Verzauberung des kindlichen Erlebens, wenn sie in eine Plattenhülle kriecht und als neuer Mensch herauskommt. Als Teenager wird sie hochnäsig, sarkastisch, trotzig. Schliesslich mit scharf formulierter, analytischer Ideologiekritik eine erwachsene Feministin.
Gut möglich, dass ich der Magie dieser Künstlerin Sophie Hunger erlegen bin. Aber wenn jemand über die schwarze Jahrhundertsängerin Nina Simone schreibt: «Sie hatte eine glimmende Schaufel in der Stimme, sie grub den Boden um», dann gehe ich gerne vor dieser präzisen Schmerzensmetapher auf die Knie und wische jeden Kitschverdacht zur Seite.
Hungers Roman ist voll mit solchen betörenden Sprachbildern: Der Gang auf die Bühne fühle sich an wie der Sprung vom 10-Meter-Turm ins Wasser; die Haare an den Beinen schimmern im Sonnenlicht wie schwarzes Sägemehl; wenn sie «Autobahn» von Kraftwerk hört und dazu Tischtennis spielt, ist die Erzählerin wie in einem psychedelischen Trip besessen davon, ein Spielfehler sei wie ein Autounfall. In alledem spielt Hunger ihr Songwriting-Talent voll aus.
Und dann webt Sophie Hunger in diese Geschichte auch noch einen kulturgeschichtlichen Faden ein. Wie eine feministische Ethnologin skizziert sie in 27 Kurzkapiteln das Leben der Walser, die im Mittelalter aus dem Bernbiet und Wallis auswanderten, um in alpinen Höhen sich anzusiedeln. Was zunächst wie ein Fremdkörper wirkt, erkennt man bald als utopisches Spiegelbild der Hauptgeschichte.
Und wenn man so will, ist dies ein zweiter Soundtrack im Buch: wie ein melancholischer Folksong über eine untergegangene, archaische, weibliche Kultur. «Walzer für Niemand» ist so reichhaltig, dass man auch in einer Besprechung die Qualitäten nur andeuten kann. Dringende Leseempfehlung! (aargauerzeitung.ch)