«Um vier Uhr beim Limmatplatz. Ich fahre einen blauen Honda Shuttel – ‹die blaue Charlotte› – du wirst sehen», grinst Jacqueline übers Telefon, als ich sie um ein Interview bitte.
Mein Atem kondensiert in der Kälte der Nacht, meine Hände habe ich tief in den Jackentaschen vergraben. Ein blaues Auto steht in der gelben Parkzone und wirkt viel mehr wie eine Grossfamilien-Kutsche als ein Stadttaxi.
Das muss das Fahrzeug der Philosophen-Tante sein!
Wo sonst peinliche Kinderkarikaturen in Kleber-Form die Autoscheiben zieren, findet man bei diesem Karren nette Sprüche, die des Nachtschwärmers Euphemismus bestens bedienen.
Ja, im nüchternen Zustand wirken die Scheiben-Sprüche schon ein Bisschen pathetisch. Aber eben, die Taxi-Philosophie muss sich bei ihren Einsatzzeiten vor allem an im Bier ersäufte Matschbirnen und Partygegröle anpassen.
Noch immer etwas zurückhaltend (es ist vier Uhr morgens!) klopfe ich ans Fenster der Beifahrertür.
«Bist du Jacqueline?», frage ich durch das halb herunter gekurbelte Fenster. Skeptisch wendet die Dame im Fahrzeug ihren Blick vom Tablet auf ihrem Schoss ab und entgegnet mir: «Ich glaube schon. Ich wüsste nichts anderes. Brauchst du ein Taxi?»
«Nein, nein, ich brauche nur dich. Wir sind verabredet.», antworte ich etwas verwirrt, worauf sie reagiert: «Oh ja klar, sorry. Komm wir gehen ins ‹Millenium›.»
Ohne zu wissen, was das genau ist, stimme ich zu. Das «Millenium» ist der Kebap/Dürum/Pizza-Laden direkt am Limmatplatz, wie mir Sekunden später klar wird. Jacqueline ist hier Stammgast seit 17 Jahren.
Du stolperst aus dem Club, Desorientierung ist garantiert, genauso wie der griesgrämige Taxi-Chauffeur, in dessen Auto du vermutlich landen wirst. Vielleicht hast du aber Glück und stehst in der selben Ecke der Stadt wie Philo-Taxi-Oma Jacqueline.
Mit einer 80er-Jahre-Pornobrille auf der Nase und permanent hochgezogenen Mundwinkeln ist sie das Beste, was dir in einer solchen Situation passieren kann.
Sie ist die Kultfigur der Zürcher Taxi-Szene. Seit 52 Jahren kutschiert Jacqueline jegliche transportbedürftige Personen durch die Stadt. Sie macht die Nacht zwar nicht zum Tag, aber die Taxifahrt zu einem herzlichen Denkexkurs.
Wenn man sich bei ihr anständig verhält, darf man eigentlich alles. Vom philosophischen Schweigen bis zur ausführlichen Debatte auf den verschiedensten Metaebenen – alles ist möglich im sieben-plätzigen «Honda Shuttle», den sie liebevoll «die blaue Charlotte nennt».
«Eine Gute», schmunzelt mich Jacqueline selbstsicher an. Seit Jahren habe sie die ständige Muse, die Welt verstehen zu wollen. Und da sie nun mal Taxifahrerin ist, wurde halt ihr Fahrzeug zum Studierzimmer.
Damit das offene Klima überhaupt entstehen kann, hat die semiprofessionelle Philosophin einige Tricks auf Lager:
Beim Einstieg kriegen ihre Gäste ein Eisbrecher-Bonbon. «So merke ich, ob die Leute eine Unterhaltung begrüssen oder lieber schweigen wollen.»
«Weisst du, es gibt so viele tolle Sprüche. Die schwirren dir kurz im Kopf herum und entwischen dann wieder. Irgendwann habe ich damit angefangen, all diese Sätze aufzuschreiben.»
Neben den Sprüchen an der Taxiinnenseite erhält jeder Fahrgast beim Aussteigen noch eine Gutenachtgeschichte. Das «Philosophische Znünisäckli» liefert die letzte Weisheit des Tages. Handgeschrieben! «Aber erst auf der Bettkante lesen», mahnt die Revoluzzer-Omi jeden einzelnen, der sich an den «Gehirn-Snacks» bedient.
Eine Schrille Oma in einem Neo-Hippie-Bus, die handgeschriebene Weisheitszettelchen verteilt – ist das manchen Gästen nicht zu viel?
«Wahrscheinlich schon», grinst die quirlige Taxi-Chauffeuse. Diejenigen, die es nicht mögen oder gerade keinen Bock auf sowas haben, seien wohl diejenigen, die schweigen. In diesen Fällen hält auch Jacqueline für einmal die Klappe. «Wenn jemand aber dumme Fragen stellt, gebe ich dumme Antworten».
Bevor wir unseren Kaffee leer trinken und uns auf die Strasse begeben, erklärt mir Jacqueline, wie die Philosophie in ihr Leben einzog.
Früher war sie nämlich alles andere als eine kritische Denkerin. Und das machte sie unzufrieden. So unzufrieden, dass sie abhaute.
Für ein halbes Jahr, nach London, wo sie als Zimmermädchen schuftete und in der Freizeit immer mit Studenten rumhing. Als die sie fragten, was sie denn eigentlich studiere, antwortete Jacqueline ganz spontan:
«Das Leben kann man immer und überall studieren. Es ist ein zeitloses Unterfangen, das mich schliesslich dazu antrieb, alles zu hinterfragen und neu zu erfinden. Die Religion, die Politik, mein Umfeld, ja sogar mich selbst.»
Die einen wollen nun nach Hause und die anderen an die gerade beginnenden Afterhours. Die perfekte Zeit, um mir zu zeigen, wie man das Leben beim Taxifahren studieren kann.
«Du kannst aber nicht auf dem Beifahrersitz hocken, das ist dir klar! Sonst verscheuchst du mir potenzielle Kundschaft.», erklärt mir Jacqueline fast ein Bisschen forsch.
Verständlich – also beobachte ich das «Spektakel» von der Rückbank aus.
«Als erstes fahren wir zum Plaza. Dort ist heute eine grossen Schwulen-Party und die wollen jetzt bestimm alle ins Niederdörfli», instruiert mich Jacqueline, als wären wir eine militärische Einheit und sie die Kommandantin.
Nach drei Fahrten der Strecke Badenerstrasse-Spitalgasse ist der Club leer gefegt und das «Team Philosophie-Taxi» zieht zum Ausgeh-Hotspot Züri West.
Mit Jacqueline durch die Nacht zu fahren ist wie eine Mischung aus Uber-Spotting und subjektivem Geschichtsunterricht.
Alle paar Minuten glaubt sie ein Uber-Fahrzeug gesichtet zu haben und notiert sich akkurat die Autonummer. Am Ende des Tages meldet sie ihre Beobachtungen der Suva und fragt dort nach, ob diese «Gschäftsverdärber», wie sie sie nennt, überhaupt als Arbeitskräfte gemeldet sind.
An der Langstrasse erzählt sie von den wilden 70ern. Als die Leute vom Sexgewerbe noch richtig gut Geldverdienten und zu ihrem Stammklientel gehörten.
Am Letten referiert sie dann von den Drogen-Fiaskos. Wie sie den Abhängigen jeden Abend Essen brachte und dass sie dem damaligen Bundesrat Stich einen 41-seitigen(!) Brief über die missliche Lage am Platzspitz schrieb.
Trotz ihres relativ fortgeschrittenen Alters (Zitat: «72 ist doch heutzutage kein Alter!») kommt die positive Ausstrahlung, die Jacqueline an die Nacht legt, einem amerikanischen High School Film gleich. Sie ist ansteckend und verführt zum Dauergrinsen. Bevor wir uns verabschieden, muss ich die jugendlich anmutende Gassenphilosophin nach ihrem Jungbrunnen fragen.
Um halb neun Uhr morgens gab es dann auch für mich eine Gutenachtgeschichte …
Ich steige ins Taxi ein und weiss, jetzt ist alles gut. Ob ich mit ihr quatschen oder vor mich hindösen will, bei ihr ist beides kein Problem und im Handumdrehen stehe ich vor meiner Haustüre. Melne Adresse musste ich der guten Dame nur einmal sagen und sie fährt mich seither jedes Mal wohlbehalten heim.
Solltest du dies lesen Jacqueline: Merci für alles!