Zu behaupten, wir hätten eine ganze Staatsaffäre ausgelöst, wäre wahrscheinlich übertrieben. Eine halbe vielleicht, ja, das kann man schon sagen.
Was ist passiert?
Ein watson-Listicle wurde im Ländle derart intensiv diskutiert, dass uns an einem nebligen Vaduzer Morgen der stellvertretende Regierungschef des Fürstentums Liechtenstein, Dr. Daniel Risch, in sein Büro lädt. Es geht um die Ortschaft Malbun: Für den Wirtschaftsminister ein wunderbares «Naherholungsgebiet» und sicherlich keine «Touristen-Falle».
Denn genau als solche haben wir Malbun anfangs Monat in einem Artikel bezeichnet. «Die grössten Touristen-Fallen Europas – diese Orte sind komplett überbewertet», heisst das Stück des Anstosses. Für jedes europäische Land hatten wir einen Ort erkoren, den man als Reisenden meiden sollte. Etwa der Balkon von Romeo und Julia in Italien, die kleine Meerjungfrau in Dänemark oder die «Heineken Experience» in Holland.
Und weil Liechtenstein ein souveräner Staat in Europa ist – dazu später mehr – musste auch das Fürstentum dran glauben. Was nicht ganz einfach war: Denn die Auswahlmöglichkeiten sind bei Liechtenstein etwa so bescheiden wie die Kochkünste von Paris Hilton. Das liegt in der Natur der Sache: Gerade Mal elf Gemeinden zählt das Land.
Also fiel unsere Wahl auf Malbun, ein Weiler der Gemeinde Triesenberg: Dem einzigen wirklichen Ferienort Liechtensteins. Wir hielten uns mit Kritik denn auch nicht zurück, bezeichneten Malbun als Ort ohne Charme und Seele, der nur aus Ferienhäusern bestehe und schlossen mit dem vernichtenden Urteil: «Dort willst du wirklich nicht hin.»
Die Meerjungfrau, Romeo und Julia haben bis heute nicht auf den Artikel reagiert. Ganz anders die Liechtensteiner: In den Sozialen Netzwerken wurde die Malbun-Kritik rege diskutiert. Das Radio Liechtenstein sprach mit dem zuständigen Tourismus-Präsidenten, der den Angriff zwar sportlich nahm aber natürlich nicht einverstanden war, und auch die Zeitung Vaterland schrieb darüber.
Damit hatten wir nicht gerechnet.
Das ganze Listicle war mehr eine Spielerei als eine fundierte Reiseberichterstattung. Natürlich maximal subjektiv. Und, wie es das Radio Liechtenstein richtig vermutete, mit einem «Augenzwinkern» zu verstehen.
Es gab also Redebedarf.
Unter Vermittlung ebendieses Radios kam darauf der Kontakt zwischen uns und dem Tourismus-Präsidenten von Malbun, Leander Schädler, zustande. Ein wandelndes Lexikon, wie sich herausstellen sollte.
Wir treffen Schädler an einem kalten Januartag im Zentrum von Vaduz. Mal schauen, ob er unsere Meinung über Malbun ändern kann.
Zunächst will er uns die Hauptstadt zeigen. Landtag und Regierungsgebäude. Die Kurzführung hat es in sich. Der sympathische Mann, der anfangs 60 sein dürfte, weiss mehr als Wikipedia. Im Ernst: Die Regierung hat ihn soeben beauftragt, die Einträge zum Regierungsgebäude in der Online-Enzyklopädie zu bearbeiten, da er so viel zu erzählen weiss.
Schädler benennt die Jahreszahlen mit einer Sicherheit als wären es die Namen seiner Kinder. 1136, 1608, 1806. Letzteres ist übrigens jenes Jahr, in dem Liechtenstein seine Souveränität erlangte. Ein durchaus bemerkenswertes Ereignis, wie uns Schädler erklärt. Denn der staatspolitische Akt war eine politische Geste Napoleons gegenüber dem regierenden Fürsten Johann I. Josef.
Offenbar hatten die beiden einen oder zwei gute Abende zusammen. Der Fürst war Napoleon derart sympathisch, dass er ihm das Land überliess. Eine absolute Ausnahme, wie ein Blick auf die heutige Landkarte beweist. Napoleon war sonst ja eher einer für die grossen Dinge.
Jedenfalls bestehe hier sicherlich noch Forschungsbedarf, meint Schädler und gibt mit einem Lächeln zu erkennen, dass er sich vielleicht selber dahinter machen werde.
Bemerkenswert für uns Aussenstehende ist auch, wie unkritisch die Liechtensteiner zu ihrem Fürsten stehen. Dessen Funktion reicht weit über die repräsentativen Aufgaben hinaus. So hat er immer noch ein Veto-Recht. Kein Gesetz wird beschlossen, ohne dass der Fürst sein Einverständnis gibt.
Er macht von diesem Privileg durchaus Gebrauch: So kündigte er bei der Abstimmung über die Abtreibungs-Legalisierung an, dass er sein Veto einlegen werde, wenn die Initiative angenommen würde. So hat Liechtenstein heute eines der strengsten Abtreibungsgesetze Europas und die Frauen müssen in die benachbarte Schweiz oder nach Österreich reisen, um abzutreiben.
Die Liechtensteiner wollen die Macht des Fürsten dennoch nicht einschränken: Mit wuchtigen 76 Prozent stimmten sie dafür, dass er das Veto-Recht behalten darf.
Item. Zurück zu Malbun:
Weil unser Guide nicht nur jede historische Gestalt, sondern gefühlt auch jeden aktuell lebenden Bewohner des Ländles zu kennen scheint, hat er kurzerhand ein Treffen mit dem stellvertretenden Regierungschef organisiert. Wie eingangs erwähnt, ist Daniel Risch Wirtschaftsminister und somit auch für den Tourismus zuständig. Ihm dürfte der watson-Artikel gar nicht gefallen haben. Wir machen uns bereits auf eine Schelte gefasst.
Doch es kommt ganz anders.
Die Standpauke bleibt aus. Die Nummer 2 der Regierung empfängt uns zum gemütlichen Gespräch in seinem Büro. Sogar Kaffee wird serviert. Risch erklärt die Vorzüge von Malbun. Der Ort sei sehr familiär, familienfreundlich und sei ein optimales Naherholungsgebiet. Natürlich sei es jetzt nicht die grosse Aprés-Ski-Destination, aber doch, man könne auch dort eins, zwei trinken nach dem Ski fahren. Er redet aus Erfahrung.
Wir verabschieden uns und machen uns auf den Weg in Richtung Malbun, das rund 1000 Meter höher liegt. Wenige Minuten nachdem wir ins Auto gestiegen sind, konstatieren wir: Die Liechtensteiner tragen heute dick auf. Neben Schädler und Risch bieten sie uns jetzt auch noch ein Nebelmeer.
Und zwar ein richtig gutes Nebelmeer. Eines, bei dem man weiss, die unten bekommen rein gar nichts von der Sonne mit. Mit einer gesunden Portion Schadenfreude blickt man dann auf die weisse Suppe hinab und fühlt sich auf einmal unglaublich privilegiert. Ist das Nebelmeer durchlässig, ist der Spass nur halb so gross.
Aber eben. Unseres hier ist ein perfektes Nebelmeer.
1:0 für Malbun.
Der Siegeszug der Liechtensteiner geht in der Folge gnadenlos weiter. Unsere Einwände, Malbun bestehe nur aus Ferienwohnungen, der Talboden sei ein Schattenloch und das Skigebiet schnell abgefahren, kontern sie überzeugend:
Überhaupt wirkt Malbun überaus kinderfreundlich. Nebst Familienhotels gibt es eine Eisbahn und einen Übungslift. Dagegen kann man nun wirklich nichts haben.
Fragezeichen haben wir aber betreffend der kulinarischen Situation im Ort. Nicht wegen des Malbuner Schinkens, dieser ist natürlich ausgezeichnet. Und die Fabrik befindet sich sowieso nicht im Dorf. Es geht um etwas anderes: Ein watson-User hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass man in Malbun Pizza mit Salatsauce essen könne, das sei die eigentliche Tradition im Ort.
Wie bitte? Pizza mit Salatsauce? Und wir dachten bisher immer, Menschen die Pizza mit Ananas essen, seien von Sinnen ...
In der Tat hat die Pizza mit Salatsauce einen legendären Status in Malbun, wie eine kurze Umfrage vor Ort ergibt. Jeder hat schon mal davon gehört.
Im wahrsten Sinne des Wortes eine Pizza, die aus der Hölle kommt. Serviert wird sie nämlich im Restaurant «Gitzihöll». Als wir dort vorbeilaufen, treffen wir den Teufel höchstpersönlich an. Der Wirt, der das diabolische Gericht seinen Kunden anbietet, ist jedoch alles andere als die Inkarnation des Belzebubs. Auch er ist – wie eigentlich alle anderen Liechtensteiner, die wir an diesem Tag antreffen – ausgesprochen freundlich.
«Wir haben gehört, dass es hier eine spezielle Pizza gibt. Ist das so?»
«Wir haben eine Spezialität und zwar Pizza mit Sauce.»
«Was für Sauce?»
«Das ist ein Geheimrezept. Die Leute haben es sehr gerne und kommen extra wegen der Sauce.»
«Wir haben gehört, es sei Salatsauce, stimmt das?»
«Nein. Also es gibt Leute, die das zum Salat nehmen, aber es ist eigentlich eher für Pizza gedacht.»
Vielleicht sieht die Sauce also auch nur aus wie Salatsauce. Man muss das Ding wohl probieren, um sich Gewissheit zu verschaffen. Machen wir heute aber nicht. Denn Schädler hat uns im Restaurant vis-à-vis einen Tisch reserviert. Natürlich gibt es auch hier nichts zu meckern: Der gemischte Salat, die «Milbuner Rösti» und der Liechtensteiner Rotwein schmecken vorzüglich. Schädler weiss, wie er uns bestechen um den Finger wickeln muss.
Bevor es zu kitschig wird, wollen wir doch noch mal etwas polemisch werden. Wir bieten den Liechtensteinern, die wir auf der Strasse und im Restaurant antreffen, die Chance zur Retourkutsche und fragen, welcher Ort denn in der Schweiz als Touristen-Falle bezeichnet werden könne.
Mit etwas Nachhaken können wir ihnen Sätze wie «Flumserberge, dort hat es zu viele Zürcher», «naja, der Rheinfall» oder «Zürich, das ist mir zu gross» entlocken. Doch festlegen will sich niemand. Rachegelüste suchen wir vergebens. Die Liechtensteiner machen es einem aber auch wirklich schwer, sie nicht zu mögen.
So fahren wir am Nachmittag wieder hinunter in den Nebel und müssen zugeben: Wir haben uns geirrt. So schlimm ist es dort oben gar nicht. Nur bei der Pizza sind sie zu weit gegangen. Vielleicht kommen wir ja wieder mal vorbei.
Sorry, Malbun!
Maximilus Cavelti
Jimmy :D
Olmabrotwurst vs. Schüblig