Am 10. Mai 1923 starb der sowjetische Diplomat Wacław Worowski in Lausanne. Maurice Conradi, ein Russland-Schweizer, hatte ihn aus nächster Nähe erschossen. Das Attentat ereignete sich während der Konferenz von Lausanne, in der nach dem Ersten Weltkrieg über die Anerkennung und die Grenzen der Türkei als Nachfolgestaat des ehemaligen Osmanischen Reiches verhandelt wurde.
Wacław Worowski war ein glühender Bolschewist und stieg nach der Oktoberrevolution 1917 zu einem hochrangigen sowjetischen Diplomaten auf. In Lausanne nahm er nur als Beobachter an den Verhandlungen teil, da die Grossmächte Grossbritannien und Frankreich die Sowjetunion nicht als gleichberechtigte Verhandlungspartei akzeptierten (siehe Box). Dass die Schweizer Regierung Worowski trotzdem ein Visum gegeben hatte, verwunderte einige Zeitgenossen und sorgte in den antikommunistischen Kreisen des Landes für Empörung.
Nach seiner Ankunft Ende April kam es sogar zu Protesten gegen Worowskis Aufenthalt in der Romandie. Dieser endete am 10. Mai 1923 abrupt. Am Abend dieses Tages betrat Maurice Conradi den Speisesaal des Hôtel Cécil, wo Wacław Worowski mit zwei weiteren sowjetischen Diplomaten beim Nachtessen sass. Da die Delegation nicht offiziell in Lausanne weilte, hatte sie keinen Polizeischutz erhalten. So konnte sich Conradi dem Tisch ungehindert nähern und mehrmals auf die Gruppe schiessen. Worowski starb sofort, seine beiden Begleiter – Jan Arens und Maxim Divilkowski – wurden verletzt. Der Täter ergab sich danach widerstandslos der Polizei.
Maurice Conradi, dessen Familie im 19. Jahrhundert aus dem Graubünden nach St. Petersburg ausgewandert war, hatte im Russischen Bürgerkrieg mit der Weissen Armee gegen die Bolschewiki gekämpft. Nach deren Sieg wurde die wohlhabende Familie enteignet und Conradis Vater sowie sein Onkel ermordet. Maurice konnte in die Schweiz fliehen und schwor Rache.
Der Mord an Wacław Worowski löste international Bestürzung aus, insbesondere in der Sowjetunion, wo grosse Protestwellen stattfanden und immer lauter Vergeltung gefordert wurde. Der sowjetische Aussenminister Georgi Tschitscherin erklärte, die Schweiz sei «eine Liga von Mördern». Anders war die Gemütslage in der Schweiz. Dort wurde das Attentat von konservativen und antikommunistischen Kreisen teilweise sogar begrüsst.
Maurice Conradi wurde am 9. August 1923 wegen Mordes und zweifach versuchten Mordes vor einem Geschworenengericht in Lausanne angeklagt. Der Andrang war so gross, dass die Behörden den Prozess vom Justizpalast ins nahe gelegene Casino verlegen mussten. Dort gelang es Conradis Anwalt Théodore Aubert, die Anklage gegen seinen Mandanten in eine Anklage gegen die Sowjetunion zu drehen. Durch die Politisierung des Prozesses erreichte der konservative Genfer Jurist im November schliesslich einen Freispruch für den Angeklagten. Zwar befanden fünf der insgesamt neun Geschworenen Maurice Conradi für schuldig, doch für eine Verurteilung wäre eine Zweidrittelmehrheit nötig gewesen.
Das Attentat, vor allem aber das Urteil hatten weitreichende diplomatische Konsequenzen für die Schweiz. Der Freispruch von Maurice Conradi wurde von der Sowjetunion als Justizskandal gewertet, woraufhin Moskau die Beziehungen zur Schweiz sofort abbrach. Dieser diplomatische Bruch dauerte bis 1946.
Trotz der Spannungen wurde die Konferenz von Lausanne übrigens fortgesetzt. Am 24. Juli 1923 unterzeichneten die beteiligten Staaten den Vertrag von Lausanne, der die Souveränität der neu gegründeten Republik Türkei sicherte und den Vertrag von Sèvres ersetzte.
Nach dem Freispruch von Lausanne taumelte Maurice Conradi durch sein Leben: Er konsumierte Alkohol und Kokain, handelte mit Drogen, randalierte und kam mehr als einmal mit dem Gesetz in Konflikt. Schliesslich floh er 1929 in die französische Fremdenlegion nach Algerien. Dafür wurde er 1931 in Abwesenheit zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Obwohl einige Zeitungen im gleichen Jahr Conradis Tod verkündeten, lebte dieser noch bis 1947 weiter. Seine letzten Jahre verbrachte er im Graubünden und musste dort mit ansehen, wie sich die Schweiz der Sowjetunion 1946 wieder annäherte. Dieser politische Schritt wird ihm nicht gefallen haben.