Das Schicksal der Familie Jneid bewegte die Schweiz im Sommer 2014. Die Eltern Suha und Omar Jneid flüchteten mit ihren drei kleinen Kindern vor dem Bürgerkrieg in Syrien. Die Schweiz wollten sie nur durchqueren. Ihr Ziel war Deutschland, wo ihre Verwandten leben. Doch sie wurden an der Grenze gestoppt.
Ein Team der Schweizer Grenzwache brachte sie zum Bahnhof Brig, wo sie auf den Zug nach Domodossola warteten. Suha legte sich im Grenzwachtposten Brig auf eine Holzbank. Sie war 22 Jahre alt und im siebten Monat schwanger. Sie klagte über wehenartige Schmerzen. Auf ihrer Hose bildete sich ein Blutfleck.
Ihr 32-jähriger Mann Omar bat die Grenzwächter mehrmals um medizinische Hilfe. Doch sie reagierten nicht. Er drohte dem Einsatzleiter, er werde ihn persönlich verantwortlich machen, wenn seiner Frau oder seinem Kind etwas zustosse. Dieser entgegnete ihm, er sei selber dafür verantwortlich, wenn er mit seiner schwangeren Frau eine solche Reise auf sich nehme. Er befahl, die Familie in den Zug zu bringen. Es war ihm wichtig, den Fahrplan einzuhalten.
Angekommen in Domodossola brach Suha auf dem Perron zusammen. Kurz darauf brachte sie ihr Baby tot im Spital zur Welt. Sie nannte es Sara und beerdigte es auf dem Friedhof von Domodossola. Das Schweizer Fernsehen zeigte Bilder des kleinen weissen Sarges. «Die Schande von Brig», titelte der «Blick».
Der Einsatzleiter, ein Walliser kurz vor der Pensionierung, wurde 2018 von der Militärjustiz wegen einfacher Körperverletzung schuldig gesprochen, weil er ihr nicht geholfen hat, ihre Schmerzen zu lindern.
Der Gerichtspräsident sagte: «Der Hund ist wohl in der Routine begraben, in der Gewohnheit.» Es könne sein, dass ein Grenzwächter 99 Mal angelogen werde. Und doch müsse er die hundertste Person fair und mit Respekt behandeln.
Vom Vorwurf der Tötung wurde der Einsatzleiter aber freigesprochen. Das Militärgericht ging davon aus, dass das Baby bei der Ankunft in Brig schon tot war.
Per Strafbefehl wurden 2021 auch drei Teammitglieder verurteilt. Sie hätten Zivilcourage zeigen müssen und der Familie - trotz der Weisung ihres Chefs - helfen sollen.
Der Fall ist strafrechtlich abgeschlossen. Nun beginnt der Zivilprozess. Diesen Donnerstag reist die Familie nach St. Gallen, um ihre Geschichte vor dem Bundesverwaltungsgericht zu erzählen.
Die Gegenpartei ist das Eidgenössische Finanzdepartement von Bundesrat Ueli Maurer (SVP). Es weigert sich, der Familie Schadenersatz und Genugtuung zu zahlen. Die Anwältin der Familie verlangt fast 300'000 Franken für die erlebte Traumatisierung.
Das Finanzdepartement will keinen Franken überweisen, da sich der Bund für die Traumatisierung nicht verantwortlich fühlt. Diese sei durch die Totgeburt und nicht durch das Verhalten der Grenzwächter entstanden, lautet die Argumentation.
Geschwächt wird der Standpunkt des Finanzdepartements allerdings dadurch, dass sich ausgerechnet die Zollverwaltung für eine Genugtuung ausgesprochen hat. Die Zollverwaltung gehört zum Finanzdepartement und ist für die Grenzwächter zuständig.
Die Behörde nennt in einer Stellungnahme zuerst die üblichen Beträge, die Opfer für Folgeschäden erhalten. Zum Beispiel 4000 Franken für eine Kassiererin, die nach einem Raubüberfall unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Zum Fall Jneid schreibt die Zollverwaltung: «Unseres Erachtens erscheint eine Genugtuungssumme von maximal 10'000 Franken als gerechtfertigt.»
Omar kennt sich mit den Details des Rechtsstreits nicht aus. Er überlässt diese seiner Anwältin. Er kann auch nicht sagen, welcher Betrag angemessen wäre. Er sagt im Gespräch mit CH Media: «Eigentlich wäre das ganze Geld der Welt nicht genug für den Verlust unserer Tochter.» Er weiss nur, was seine Familie mit einer Überweisung aus Bern machen würde, falls sie gewinnen werden: «Wir würden Schulsachen und Kleider für unsere Kinder kaufen.»
Die Vergangenheit lässt die Familie Jneid nicht los. «Eine so traurige Erfahrung vergisst man nie», sagt Omar. Vor allem eine Tochter weine deswegen oft und stelle viele Fragen zum Tod. Sie ist jetzt zwölf.
Und trotzdem blicken die Jneids voller Zuversicht in die Zukunft. Denn inzwischen hat die ganze Familie endlich das Ziel ihrer Reise erreicht: Deutschland. 2021 erhielt Omar die Erlaubnis, aus Italien zum Rest seiner Familie nachzureisen. Sie sind jetzt zu siebt.
Omar ist inzwischen vierzig Jahre alt, spricht ein bisschen Deutsch und hofft, bald eine Arbeit zu finden. In Syrien unterrichtete er bis zum Ausbruch des Krieges Englisch und Arabisch an einem Gymnasium. In Deutschland möchte er den Einstieg ins Berufsleben auf dem Bau versuchen.
Seine Frau Suha ist dreissig Jahre alt geworden und hat nun, da sie nicht mehr alleine auf ihre Kinder schauen muss, endlich Zeit, einen Deutschkurs zu besuchen. Seither sei sie aufgeblüht. Die Totgeburt hatte sie traumatisiert. In der Folge litt sie an Haarausfall und Schuppenflechte. Nun erhole sie sich langsam und habe wieder Hoffnung gewonnen.
Die grosse Freude der Eltern ist, dass sich ihre Kinder schon viel besser integriert haben als sie selber. Die Kinder würden gute Noten aus der Schule nach Hause bringen und hätten deutsche Freunde gefunden. Alle vier Jungs spielen im Fussballklub von Neuwied, einem Vorort von Koblenz, wo sie wohnen.
Die Familie lebt vom Sozialamt und freut sich über die Unterstützung, die viel besser sei als in Italien. Sie wohnt in einem Haus mit Garten, in dem jedes Kind ein eigenes Zimmer haben kann.
Omar sagt: «Deutschland ist unsere Zukunft. Es gefällt uns, dass alle respektvoll miteinander umgehen. Hier wollen wir dazugehören.» (aargauerzeitung.ch)
2. Das Militärgericht ging davon aus, dass das Baby bei der Ankunft in Brig schon tot war.
Eine hochschwangere Frau, die whenartigen Schmerz verspürt und Blut verliert, gehört ins nächste Spital. Distanz vom Bahnhof Brig bis zum Spital ca. 700 m.
Die aufgelaufenen Anwaltskosten des Finanzdepartementes dürften die ursprünglich eingeklagten CHF 50'000 bei weitem übertreffen.
Eine ganz und gar unrühmliche Geschichte.