Anita Gohdes, wir bekommen live mit, wie in Syrien Menschen fliehen müssen oder getötet werden ...
... und wie Waffenstillstand ausgerufen und wieder gebrochen wird, ja.
Diese Grausamkeiten, dieses Chaos wird direkt über die Sozialen Medien
verteilt. Und dennoch sind die Reaktionen dazu völlig gleichgültig. Das
ist schockierend. Was wir sehen werden, in 5 oder 10 Jahren, was in
Aleppo passiert ist werden wir in einem Atemzug mit Sarajevo und Ruanda
nennen. Das wird schwer zu verarbeiten sein.
Woran liegt es, dass die Reaktionen ausbleiben?
Es
hat sich eine gewisse Müdigkeit eingestellt, wegen der konstanten
Berieselung von Information sind viele Leute nicht mehr aufnahmefähig,
obwohl der Krieg nicht weniger schlimm geworden ist. Und die Intensität
von Signalen, die man zum Beispiel auf Sozialen Medien mitkriegt,
vermittelt ein falsches Bild. Das täuscht gewaltig.
Wie meinen Sie das?
Wie
oft über den IS getwittert wird, wie oft über Oppositionsgruppen und
wie oft über die Regierung wird als proportional dazu wahrgenommen, was
wirklich passiert. Dass der Hauptgewalttäter die syrische Regierung ist,
kommt in den Sozialen Medien nicht rüber. Es gibt viele Gründe dafür,
unter anderem dass die syrische Regierung Internetkontrollen oder –sperrungen häufig an jenen Tagen verhängt, an denen die Armee
vernichtende Militäroffensiven durchführt (siehe Infobox).
Und wie operieren die Rebellen?
Die
Opposition gegen das Regime ist stark zersplittert, wir sehen sehen
eine Vielzahl von Gruppen die zum Teil auch untereinander kämpfen.
Berichten zufolge wenden einige der Oppositionsgruppen ähnlich brutale
Methoden wie das syrische Militär an. Grundsätzlich ist jedoch das
Ausmass der Gewalt auf Seiten der Opposition nicht mit dem der Regierung
zu vergleichen.
Die Signale, die aus Aleppo zu uns schwappen, widersprechen sich. Werden die Menschen nun evakuiert oder vertrieben?
Die
Sprache der syrischen Regierung erstaunt und bestürzt mich. Da ist von
Evakuierung die Rede und von Versöhnungsprogrammen, als hätten die
Menschen, die dem Regime kritisch gegenüber stehen, automatisch Unrecht
begangen und als würden sie jetzt quasi wohlwollend aufgenommen werden.
Das ist eine Rhetorik, die gerne in Menschenrechtskreisen benutzt wird. Und zu sehen, dass eine Regierung, die abertausende von Menschen
umgebracht hat, sich diese Rhetorik zu eigen macht, ist schockierend. Es zeigt: Das Regime weiss ganz genau, was da für Spiele gespielt
werden müssen.
Da hat man als Laie aber auch kaum Chancen, durchzublicken.
Absolut.
Das war bei den US-Wahlen zum Teil auch so, Stichwort Fake News: Schon
kleine Infragestellungen wecken grosses Misstrauen. Wenn uns eine
Botschaft über die Sozialen Medien erreicht, die lautet, alle
Regimegegner seien automatisch Terroristen, fragt man sich plötzlich:
Soll man dieser Seite auch ein bisschen glauben? Auch wenn die Botschaft
vielleicht von einem Absender mit eindeutiger Motivation kommt. Das findet
ein richtiger Informationskrieg statt.
Sind wir diesem Informationskrieg chancenlos ausgeliefert?
Es
braucht eine höhere Medienkompetenz. Von jedem. Wer hat in der
Vergangenheit gut und faktenbasiert Informationen geliefert? Das ist
eine verlässliche Quelle. Twittere ich alles weiter, was ich sehe, oder
gucke ich, woher es kommt, ob es weitere Meldungen dazu gibt? Gibt es
Medienhäuser, denen ich vertrauen kann, Reporter, die schon seit Jahren
berichten? Das alles sind Möglichkeiten, sich von extrem plakativer
Falschberichterstattung zu schützen.
Hat sich die Quellenlage verändert?
Die syrische Bevölkerung ist zu Beginn des Konfliktes deutlich
freizügiger mit dem Internet umgegangen. Damals hatte die syrische
Regierung zum ersten Mal Seiten wie Facebook, Twitter und Youtube
entblockt, die Euphorie war gross, wenn nur genug Leute sähen, was
passiert, könne man etwas, oder sie, bewegen. Diese Euphorie ist
verflogen, weil die Menschen gemerkt haben, dass die Regierung das auch
zu ihrem Vorteil nutzen kann: Wer ist mit wem befreundet, wer geht an
welche Demo? Mittlerweile ist viel Kommunikation verschlüsselt und
sicherer geworden.
Zurück zu Aleppo: Ist das ein dauerhafter Sieg für Assad?
Ich
wage keine Prognose, aber ich glaube, ohne Einwirkung der russischen
Seite würden wir jetzt nicht diese Obermacht der Regierung sehen. Seit
dieser Unterstützung hat Assad viel mehr Ressourcen und deshalb einen
grossen Vorteil. Die Frage ist nur noch, ob Russland und Assad, und auch
die Türkei bereit sind, zu verhandeln. In Aleppo jedenfalls werden
junge Männer, die von der Opposition rekrutiert werden könnten, gezielt
umgebracht. Vor diesen Menschen hat die Regierung extrem Angst.
Die Hauptopfer sind also junge Männer?
Ganz
viele sterben durch indiscriminate killings, das heisst Bomben und
Raketen. Da werden Frauen und Kinder, alte und junge gleichermassen
Opfer. In Aleppo aber schnappen sie zusätzlich alle kampffähigen Männer.
Diese haben dann die Wahl zwischen Zwangsrekrutierung und Folter oder
Tod. Das ist übrigens auch ein Grund, warum sehr viele junge Syrer
fliehen.
Welche Rolle spielt der IS?
Wenn
man sieht, wie viel Wirkung das Bestehen des IS auf westliche Staaten
und deren Motivation, in den Krieg einzugreifen, hat, eine wichtige. Der
IS ist für die Assad-Regierung ein gefundenes Fressen, er liefert einen
Sündenbock. Dabei darf man natürlich nicht unterschätzen, was für ein
Leid der IS angerichtet hat.
Und wie sieht es in Rest-Syrien aus?
In
fast jedem Teil des Landes sind Massaker passiert, das darf man nicht
vergessen. In den von der Regierung gehaltenen Gebieten wird vielleicht
zeitweise keine extreme Gewaltschiene gefahren, aber das heisst nicht,
dass es den Leuten gut geht.