«Bald werden wir das Licht des Unglaubens löschen. Die Messer sind geschärft, die Schwerter gezückt.» Der Ausschnitt aus dem Dschihad-Propaganda-Lied, das der IS-Sympathisant während einer Autofahrt in einem VW Golf abspielte, ist vergleichsweise harmlos. Auf seinen elektronischen Geräten entdeckte die Polizei Videos und Bilder mit der ganzen Palette an Grausamkeiten des Islamischen Staates. Aber das ist nicht alles.
Die Behörden überwachten den in der Schweiz geborenen Kosovaren. Im April 2021 empfing er in seiner Wohnung einen deutsch-pakistanischen Al-Kaida-Helfer, der 2011 in Deutschland zu acht Jahren Haft verurteilt wurde.
Mit ihm unterhielt sich der perfekt Berndeutsch sprechende Kosovare über das Attentat von Wien, als ein 20-jähriger IS-Terrorist am 2. November 2020 mit einer Schusswaffe vier Menschen tötete und mehr als 20 Personen verletzte. Die Polizei erschoss den österreichisch-nordmazedonischen Doppelbürger. Er hatte an einem Deradikalisierungsprogramm teilgenommen und den Experten erfolgreich vorgegaukelt, er habe dem IS abgeschworen.
Der Deutsch-Pakistaner diskutierte mit dem Kosovaren, wie man ein Attentat in der Schweiz vorbereiten könnte. Er sinnierte über einen Sprengstofftest im Wald («Beim Test gibt's einen Knall. So ‹bam›»), wie Untersuchungsakten zeigen. Im Februar erhob die deutsche Bundesanwaltschaft erneut Anklage gegen die einstige Schlüsselfigur im Al-Kaida-Terrornetzwerk wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung. Der 60-Jährige hatte sich unterdessen dem IS angeschlossen.
Der Radikalisierungsprozess des vorbestraften Kosovaren (Tätlichkeit, verbotener Waffenbesitz) begann schon früher. Ab 2016 besuchte er eine Moschee, in der ein salafistischer Imam predigte. Der junge Mann, der zu Hause militärische Tarnanzüge aufbewahrte und 15 Wurfmesser hortete, verkehrte auch im Umfeld der Winterthurer Dschihadisten-Szene. Sie geriet mit Syrien-Reisenden und der Schliessung der An-Nur-Moschee in die Schlagzeilen.
Die Kantonspolizei schätzt den Kosovaren als unberechenbar und gefährlich ein. Man müsse damit rechnen, dass er aus religiösen Motiven einen Terroranschlag vorbereiten oder ausführen könnte. Die Bundesanwaltschaft verhängte gegen ihn per Strafbefehl eine bedingte Freiheitsstrafe von 180 Tagen wegen Verstosses gegen das IS/Al-Kaida-Gesetz und den Besitz von Gewaltdarstellungen.
Schwerer als dieses Urteil wiegt für den Kosovaren, der keine Lehre absolvierte und von der Sozialhilfe lebte, der Verlust des Aufenthaltsrechts: Das Staatssekretariat für Migration (SEM) löschte seine vorläufige Aufnahme, weil er eine Gefahr für die innere und äussere Sicherheit darstelle.
Der IS-Sympathisant reichte vergeblich Beschwerde ein beim Bundesverwaltungsgericht. Es hielt fest, er stelle seinen Glauben über die liberalen demokratischen Werte der Schweiz. Anfang 2022 wurde er in den Kosovo ausgeschafft.
Das SEM wollte auch den jüngeren Bruder des IS-Sympathisanten des Landes verweisen. Darum ersucht wurde das SEM vom Bundesamt für Polizei, das auch den jüngeren Bruder als gefährlich einstuft. Doch in seinem Fall legte das Bundesverwaltungsgericht im letzten Februar das Veto ein.
Es rügte das SEM scharf und warf ihm vor, es behaupte pauschal und völlig unfundiert, der jüngere Bruder habe sich nicht nachhaltig deradikalisiert. Dabei dokumentierten zahlreiche Behördenberichte, dass er sich seit mehr als drei Jahren von der radikalislamischen Szene abgewandt habe.
Worum geht es? Im Januar 2021 verurteilte die Jugendanwaltschaft den jüngeren Bruder per Strafbefehl zu einem Monat bedingten Freiheitsentzugs. Er besass IS-Propagandamaterial mit Gewaltdarstellungen und er nahm an einem Seminar teil, an dem ein deutscher IS-Sympathisant als Redner auftrat, weiter versandte er einen Spendenaufruf für in Nordsyrien internierte IS-Anhängerinnen.
Diese Taten beging er im Zeitraum von etwa einem Jahr, volljährig war er noch nicht. Gemäss dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts war er ein Mitläufer, ein Jugendlicher auf Identitätssuche, der unter schlechtem Einfluss des grossen Bruders temporär auf Abwege geriet.
Nach der Verurteilung musste er sich regelmässig bei der Fachstelle Bedrohungsmanagement der Kantonspolizei melden, und ein Sozialarbeiter der Jugendanwaltschaft kümmerte sich um ihn. Die Massnahmen scheinen zu fruchten. Ob Jugendanwältin, Sozialdienst, Lehrbetrieb, ein Arzt oder die Eltern seiner Schweizer Ex-Freundin: Alle attestieren ihm eine positive Entwicklung. Er sei zuverlässig und bereit, Hilfe anzunehmen. Anzeichen für eine extremistische Haltung gebe es keine mehr, er pflege keine Kontakte mehr zum dschihadistischen Umfeld und habe sich von diesem Gedankengut distanziert.
Das SEM hingegen misstraute der Läuterung mit Verweis auf das Täuschungsmanöver des Attentäters von Wien. Zudem habe der jüngere Bruder den älteren 13 Mal im Ausschaffungsgefängnis besucht. Es ist das Argument des SEM, welches das Bundesverwaltungsgericht als «Sippenhaft» abkanzelt.
In der Schweiz versuchen die Behörden, radikalisierte Personen mit massgeschneiderten Massnahmen zu betreuen, sie möglichst rasch in die liberale Gesellschaft zu integrieren und von Gewalttaten abzuhalten. Doch wann gilt jemand als «nachhaltig deradikalisiert»? Kann man das überhaupt feststellen?
Die Frage ist relevant. Laut dem Nachrichtendienst des Bundes besteht weiterhin erhöhte Terrorgefahr. Als wahrscheinlichstes Szenario stuft es ein Attentat eines Einzeltäters mit einfachen Mitteln ein. Ein Beispiel dafür ist die Frau, die im Manor in Lugano ein Brotmesser schnappte und zwei Frauen attackierte. Das Bundesstrafgericht verurteilte sie zu neun Jahren Haft wegen mehrfachen versuchten Mordes und Widerhandlung gegen das IS-/Al Kaida-Gesetz.
Bei der Bundesanwaltschaft sind die Verfahren im Bereich des dschihadistisch motivierten Terrorismus «seit einiger Zeit auf einem hohen Niveau von rund 70 hängigen Verfahren stabil», wie die Behörde schreibt. Es geht dabei um Rekrutierung oder Finanzierung von Terrororganisationen, Propaganda, IS-Rückkehrer und vereinzelt die Planung von Attentaten. Beschuldigt werden auch Personen, die schon einmal wegen Delikten im Bereich des Terrorismus verurteilt wurden und nun erneut mit einem Strafverfahren konfrontiert sind.
Johannes Saal ist Religionssoziologe und Politikwissenschaftler an der Universität Luzern. Er forscht seit langem zum Thema Dschihadismus. Die wissenschaftliche Evaluation zur Deradikalisierung stecke noch in den Kinderschuhen, sagt er. Den Einzelfall des jüngeren Bruders kommentiert er nicht. Grundsätzlich beurteilt er die Wirksamkeit von Deradikalisierungsmassnahmen skeptisch. Er verweist auf einen Syrien-Rückkehrer der Winterthurer Dschihadistenszene, bei dem sich eine positive Prognose nicht bewahrheitet habe.
Auch eine Untersuchung zu einem Aussteigerprogramm im Bundesland Nordrheinwestfallen liefert ein ernüchterndes Fazit. Von 130 Dschihadisten im Bundesland deradikalisierten sich nur drei komplett, weitere 25 lösten sich «wahrscheinlich dauerhaft» von der Extremistenszene, wie Saal in seiner Dissertation über dschihadistische Netzwerke in Deutschland, Österreich und der Schweiz schreibt.
Der Resozialisierungsprozess sei schwierig, weil er alle Lebensbereiche umfasse. So müssten die Betroffenen etwa komplett mit ihrem früheren sozialen Umfeld brechen, einen neuen Freundeskreis aufbauen und sich berufliche Perspektiven schaffen. Deradikalisierung sei kein linearer Prozess.
«Eine neue Freundin oder eine neue Ausbildung können helfen, den Ausstieg zu schaffen. Doch es besteht die Gefahr, dass die Betroffenen nach einem biografischen Bruch wieder in die Extremistenszene abdriften», sagt Saal.
Frank Urbaniok ist einer der einflussreichsten forensischer Psychiater der Schweiz. Der Gutachter entwickelte ein eigenes Diagnosesystem zur Risikobeurteilung von Straftätern. Bei der Risikobeurteilung von IS-Sympathisanten würden die gleichen Prinzipien gelten, sagt er.
Eine absolute Garantie, dass jemand nicht rückfällig werde, gebe es nie. Man müsse jeden Einzelfall ergebnisoffen analysieren und die Verbindung der Person zum Tatverhalten durchleuchten. Gutachter müssten viele Puzzleteile zusammensetzen und dann ein Gesamtbild zeichnen.
Wie erkennt ein Psychiater, dass jemand seine wahren Absichten vernebelt und trotz anders lautender Aussagen weiterhin extremistisch tickt? «Je mehr Informationen man zu einer Person aus unterschiedlichen Bereichen besitzt, desto wahrscheinlicher schätzt man das Risiko richtig ein», sagt Urbaniok.
Es sei fast ein Ding der Unmöglichkeit, seine Haltung in allen Lebenslagen während 24 Stunden am Tag im Beruf, bei Freunden, bei der Familie und bei Aktivitäten im Internet hermetisch abzuriegeln. Mangels Aktenkenntnisse gibt Urbaniok zum jüngeren Bruder keine Prognose ab. Für ihn spricht, dass er von verschiedener Seite positive Referenzen erhalten hat. (bzbasel.ch)
Ausser in einer Zelle eingesperrt.
Es scheint mir, dass viele Kosovaren und Mazedonier welche in der Schweiz aufwuchsen um einiges radikaler in ihrem Glauben sind als manch ein Flüchtling aus Syrien oder aus Afghanistan...