«Alle Grausamkeiten, die Menschen ersinnen können, finden dort statt.» Ende 2021 strahlte das Schweizer Fernsehen eine Dokumentation zur «Satanic Panic» aus. Ein Oberarzt, damals Traumatherapeut in Littenheid, erzählte darin freimütig von angeblichem rituellem Missbrauch. Es gebe eine «Parallelwelt, die sich extrem gut zu schützen weiss», sagte er, sprach von Foltermethoden und anderen Gräueltaten.
Die Folgen davon: Der Oberarzt und später die ärztliche Direktorin wurden entlassen, die Aufnahme von Patientinnen und Patienten gestoppt. Der Kanton Thurgau leitete im Frühling 2022 eine Untersuchung ein und ordnete im Dezember Massnahmen an.
Daraufhin beauftragte die Clienia Littenheid einen externen Gutachter, der 422 Akten von Patientinnen und Patienten mit dissoziativen Identitätsstörungen überprüfte. Am Freitag gaben der Kanton Thurgau und die Clienia Littenheid die Resultate bekannt: Bei 43 der 422 Gutachten wurden «gravierende» Hinweise auf Verschwörungserzählungen festgestellt, bei weiteren 188 zumindest angedeutete Hinweise.
«Gravierende Hinweise» seien dann festgestellt worden, wenn die Themen satanistische Gewalt oder Mind Control mutmasslich vertieft, als Tatsachen angenommen oder durch Nachfragen etabliert worden seien, schreibt Clienia-Mediensprecherin Bettina Zimmermann auf Anfrage. Das Gutachten hat die Klinik zusammen mit der Mitteilung am Freitag veröffentlicht.
Er habe Auffälligkeiten erwartet, sagt der Thurgauer Gesundheitsdirektor Urs Martin auf Anfrage, «das Ausmass hat mich aber überrascht.» Die Clienia Littenheid schreibt in ihrer Mitteilung vom Freitag ebenfalls: «Das Ausmass macht uns tief betroffen. Der Bericht bestätigt den Handlungsbedarf bezüglich der Organisations-, Führungs- und Fehlerkultur.»
Als Reaktion auf die Enthüllungen hat die Klinik unter anderem eine Ombudsstelle und eine externe Meldestelle errichtet, ihr Konzept überarbeitet, ein evidenzbasiertes Therapieverfahren eingeführt und Schulungen für die Mitarbeitenden angeordnet. In der Mitteilung heisst es: «Das neue Konzept trennt Ausbildung, Zertifizierung und Supervision vollständig voneinander. Es wird sichergestellt, dass die Grundlagen aller Schulungen wissenschaftlich fundiert sind.»
Der Kanton Thurgau hat die Fortschritte Mitte Juli überprüft - mit positivem Fazit. Der Neustart sei in Littenheid «in vollem Gang», sagt Urs Martin, und der Kanton bleibe «eng dran». Ohnehin gelte der Thurgau als «Musterbeispiel der Aufklärung». Urs Martin sagt: «Wir erfahren internationales Lob, weil wir als öffentliche Hand erstmals solche Missstände belegt haben.»
Obwohl Urs Martins Departement in seinen Spitälern regelmässig Aufsichtsbesuche macht, kamen die Probleme in Littenheid erst ans Licht, als das Schweizer Fernsehen entscheidende Hinweise lieferte. Trotzdem sagt der Gesundheitsdirektor: «Ich gehe nicht davon aus, dass wir Fehler gemacht haben.» Solange der Kanton keine konkreten Hinweise habe, gebe es keinen Grund, einzelne Therapiekonzepte oder Behandlungen zu überprüfen.
Anders als der Kanton gibt die Clienia Littenheid Versäumnisse zu. Mediensprecherin Bettina Zimmermann schreibt: «Für die Fehler bitten wir um Entschuldigung. Wir haben in den letzten Monaten grosse Anstrengungen unternommen, die Ereignisse lückenlos aufzuarbeiten und entsprechende Konsequenzen zu ziehen.» Man werde alles daransetzen, den Menschen, die Hilfe suchen, die bestmögliche evidenzbasierte Therapie anzubieten.
Ob dazu auch weitere Entlassungen gehören, kann und will Urs Martin nicht beurteilen. «Ich weiss von mehreren Umstellungen», sagt er, «aber es ist nicht an mir, Personalentscheide der Klinik zu kommentieren.»
Die Clienia selbst hält sich ebenfalls bedeckt. Der neue Pflegedirektor Daniel Mark und der neue ärztliche Direktor Rafael Traber stünden für einen Neuanfang, schreibt Bettina Zimmermann, und: «Nach Aussage des Gutachters haben wir mit der Anpassung der neuen Therapiekonzepte sowie den personellen Neubesetzungen wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Zukunft geschaffen.» Eine Entlassung von Klinikdirektor Daniel Wild indes sei nie zur Debatte gestanden.
Auch ohne weitere Entlassungen: Die Clienia Littenheid hat weiter zu tun. Die Kontroll- und Qualitätssicherungsmassnahmen der Klinik würden vom Amt für Gesundheit weiterhin begleitet, schreibt der Kanton: «Die Wirksamkeit der Massnahmen kann noch nicht abschliessend beurteilt werden, da diese erst nach einer gewissen Zeit messbar sind.»
Der Kanton kündigt für 2024 oder 2025 eine erneute Vor-Ort-Inspektion und einen darauf basierenden Schlussbericht an. Dass dieser so lange auf sich warten lasse, liege ausschliesslich an den hohen Auflagen, die der Kanton von der Klinik verlange, sagt Urs Martin. «Die Clienia Littenheid will so schnell wie möglich reinen Tisch machen - wir haben keine Veranlassung mehr, anzunehmen, dass sie irgendetwas beschönigen oder vertuschen will.»
Stand jetzt steht für die Clienia Littenheid erst fest: Mit der Implementierung des neuen Therapiekonzeptes können ab Oktober 2023 wieder Vorgespräche für Patientinnen und Patienten mit einer dissoziativen Identitätsstörung zur stationären Psychotherapie geführt werden. Die Aufnahme werde ab Januar 2024 wieder möglich sein.
Für jene Patientinnen und Patienten, die möglicherweise Opfer von Verschwörungserzählungen geworden sind, stehe die Clienia Littenheid «selbstverständlich» zur Verfügung, schreibt Bettina Zimmermann. Private Forderungen nach Schadenersatz oder gar Anzeigen seien bislang nicht eingegangen - und offiziell gibt es auch (noch) keine Opfer: «Der Gutachter hält fest, dass es zu keinen direkten Schädigungen von Patientinnen und Patienten gekommen ist.» (bzbasel.ch)
Offen bleibt die Frage, wie es kommt, dass sich eine derart strube Idee vorzugsweise in Köpfen von Psychiatern einnisten kann. Was führt dazu, dass sie da auf so fruchtbaren Boden fällt..?
Hat da jemand eine Theorie?
Das ist absurd. Was meint der Gutachter mit "direkt"? Muss der Patient aus dem Fenster springen und im Abschiedsbrief den Satan erwähnen, damit es als "direkte Schädigung" gilt? Ich hoffe, es gibt noch Anzeigen von den Opfern.