Wolken. Viel zu tief. Dabei hatte ich mich so auf die Churfirsten gefreut. Die sieben aufgereihten Bergspitzen sind heute nicht sichtbar. Gemäss unbestätigten Quellen darf niemand im Toggenburg Wohnsitz nehmen, der nicht die Gipfel in der richtigen Reihenfolge von Ost oder West aufzählen kann: Selun, Frümsel, Brisi, Zuestoll, Schibenstoll, Hinterrugg, Chäserrugg. Im Aufstieg zum Selun existiert in Starkenbach ein abenteuerliches Bähnli. watson-User Christian Grey weiss zu berichten: «In einer offenen Holzkiste fährt man auf den Strichboden.» Ist ein Geheimtipp.
Ich fahre weiter nach Ebnat-Kappel, meine 273. von 2324 Gemeinden der Schweiz. Dort spielte ich einmal Fussball. Wir mussten uns im Schulhaus umziehen und zum Platz runterlaufen. Ist das immer noch so? Viel mehr wusste ich nicht über die Gemeinde.
Heute treffe ich beim Ortseingang Rita, die Mutter eines Kollegen. Sie begleitet mich ein Stückchen bis Lichtensteig. Wieder geht es gleich zu Beginn um einen Berg: den Speer. 1950 Meter hoch. Ich vergesse die Zahl nie. Weil der Gipfel ist so hoch wie mein Vater alt. So jedenfalls meine Eselsbrücke.
Auf jeden Fall zeigt sich auch der höchste Nagelfluhberg Europas nicht. «Hat der Speer einen Hut, wird das Wetter gut», sagt Rita. Vor wenigen Minuten sei die Spitze noch sichtbar gewesen. Der Speer steht (auch) auf Gemeindegebiet von Ebnat-Kappel. Man darf es den Toggenburgern nicht sagen, aber vom Linthgebiet aus finde ich den Berg eindrücklicher. Hoch gibt es eine einfache Wanderung. Oder den Kletterweg. Der ist krass. Dafür wird man oft mit der Sicht auf das Rudel Steinböcke belohnt, das in der Region lebt.
Wir bleiben unten im Tal. Vorbei an schönen Häusern quasseln wir die ganze Fahrt. Ein Ski-Weltcuprennen gab es hier einmal. 1968 gewann die erste Austragung – damals noch nicht zum Weltcup gehörend – Edi Bruggmann. Am 2. Januar 1977 holten die Gebrüder Heini und Christian Hemmi bei der Weltcup-Premiere im Riesenslalom den Doppelsieg für die Schweiz (müsste eigentlich in unsere Serie «Unvergessen»). Es gibt gar einen Film über die Rennen. Leider ist mir der Titel schon wieder entfallen. Er sei sehenswert.
«Und dann war da noch der ‹Pfüderi› Pirmin Zurbriggen», erinnert sich Rita. Der sei blutjung gewesen. Aber als sie alle als Fans ihn den Hang runterkurven sahen, wussten sie: «Der wird einmal ein Grosser.» Er wurde einer. Man kann sagen, Pirmin Zurbriggens Weg an die Spitze begann auch ein bisschen hier im Toggenburg.
Das Weltcuprennen wird längst nicht mehr durchgeführt. 1989 geht der Skilift Konkurs. Heute stehe die Anlage in Argentinien. Ich will mir den Hang ansehen. Auf dem Weg dorthin radeln wir an weidenden Eseln vorbei, ein Reh huscht gerade noch vor dem Foto ausser Sichtweite und bei einem Schweinestall muss ich mich ablichten lassen. Ich mag Schweine. Sie erinnern mich immer an die Zeiten, als meine Grosseltern auch noch welche im Stall hatten.
Vor lauter Tierwelt vergessen wir den Weltcup-Hang. Rita verspricht auf dem Heimweg wenigstens ein Bild davon zu schicken. In Lichtensteig trennen sich unsere Wege. Sie drückt mir ein Proviantsäckli in die Hand. Ich muss hoch zur Wasserfluh. Ein Pass auf 850 Metern. «Ich bin froh, muss ich da nicht hoch», sagt Rita, lächelt und fährt in die andere Richtung.
Wir legten zusammen nur gut 10 Kilometer der schon rund 2500 Kilometer dauernden Reise zurück. Aber das sind genau die Momente, die bleiben: aufgestellte, offene, hilfsbereite, einfach gute Menschen. Schön gibt es sie.
Am Abend schickt mir «der beste unbezahlte Botschafter des Toggenburgs» eine Message: «Schad, häsch d'Churfirste nöd gseh, die andere 364 Täg im Johr gseht mers super!» Er könnte die sieben Bergspitzen auch rückwärts aufsagen. Sein Name ist mir gerade entfallen. Denn falls er nicht recht hat, will ich ihn vor anderen hämischen Kommentaren verschonen. Weil was er nicht wusste: Heute fahre ich über den Hemberg kurz ins Toggenburg zurück. Churfirsten, ihr lasst euch besser blicken!