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Die Stunde der Wahrheit für die Schweizer Festivals – eine Übersicht

ARCHIVBILD ZUR MELDUNG, DASS GROSSANLAESSE UND VERANSTALTUNGEN MIT MEHR ALS 1000 PERSONEN BIS 30. SEPEMBER NICHT MOEGLICH SIND - Festival visitors enjoy the show during the music festival Openair St.  ...
Solche Bilder wird es auch in diesem Jahr nicht geben.Bild: KEYSTONE

Die Stunde der Wahrheit für die Schweizer Festivals steht bevor – eine Übersicht

Die grossen Veranstalter stehen unter akutem Zugzwang. Wenn der Bund noch lange zögert, müssen sie die Notbremse ziehen.
06.04.2021, 05:37
Stefan Künzli / ch media
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Argovia Fäscht, Greenfield, St.Gallen, Gurtenfestival, Paléo in Nyon und ­viele mehr. In der Schweizer Festivallandschaft reiht sich Absage an Absage. Der Scherbenhaufen wird grösser. Die Veranstalter sind ratlos und stehen im luftleeren Raum. «Noch immer fehlen ­jegliche Rahmenbedingungen und ­Bewilligungskriterien», sagt Stefan Breitenmoser, Geschäftsführer der SMPA, dem Verband der Schweizer Konzert-, Show- und Festivalveranstalter. Unter akutem Zugzwang stehen die grossen Julifestivals: Moon & Stars in Locarno, Blue Balls Festival in Luzern, Basel Tattoo und Open Air Frauenfeld. Wenn sich der Bund weiter in Schweigen hüllt, müssen bald auch diese Sommerfestivals abgesagt oder verschoben werden.

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Seit Monaten drängen die Kultur-Verbände darauf, dass Eckwerte für Veranstaltungen definiert werden. Dabei geht es um die zentrale Frage: Was könnte unter welchen Umständen wie möglich sein? Oder zumindest der Umkehrschluss: Was bleibt sicher wie lange verboten? Folgende Szenarien sind im Sommer für die Durchführung von Grossveranstaltungen denkbar:

  1. Zugang nur für Geimpfte, Genesene und negativ Getestete (GGG-Bubble): keine Maskenpflicht, volle Kapazität.
  2. Nummerierte, personalisierte Sitzplätze in dynamischen Sektoren: Maske in gemeinsam genutzten Bereichen.
  3. Stehplätze: mit Messung der Kontaktintensität oder aufgeteilt in mehrere autarke Sektoren.

Schweizweit sind einheitliche Vorgaben nötig

Szenario 1 ist für den obersten Gesundheitsdirektor Lukas Engelberger denkbar. Erst recht, wenn der Impfplan des Bundes eingehalten wird (alle, die wollen, sind bis Ende Juni geimpft). Die Szenarien 2 und 3 sind im letzten Sommer schon erfolgreich angewendet worden. Jetzt ginge es gemäss der SMPA darum, dass der Bund Rückmeldung zu diesen Szenarien gibt und die Öffnungsschritte und die Rahmenbedingungen ohne fixe Zuordnung auf der Zeitachse definiert. So kann die Planung in die richtige Richtung gelenkt und können Schäden minimiert werden.

«Hilfreich wäre aber auch schon, wenn ebenfalls rollend zumindest festgelegt würde, was sicher nicht geht»,

sagt SMPA-Präsident Christoph Bill. Wichtig sei zudem, dass die Vorgaben «schweizweit einheitlich und praxistauglich» definiert würden.

Erst wenn das geklärt ist, können die Veranstalter die Wirtschaftlichkeit einer Veranstaltung abschätzen und die Schutzkonzepte erarbeiten. Die Zeit drängt. Denn die Schutzkonzepte müssen dann von den zuständigen Kantonen und Gemeinden bewilligt werden. Und allein dazu braucht zum Beispiel der Kanton Aargau, gemäss eigenen Angaben, acht Wochen. Umso wichtiger ist, dass der Bund jetzt entscheidet. Sonst ist der Festivalsommer vorbei, bevor der Sommer begonnen hat.

«Wir müssen endlich wissen, woran wir sind»

Viele Festivals haben einen Plan B, eine abgespeckte Version eines Festivals, erarbeitet. Aber auch Plan B braucht Vorlaufszeit. Deshalb hat Nyon nun auch seine Alternativvariante abgesagt. Das Jazzfestival in Montreux hat dagegen sein Festival reduziert und angepasst (siehe Infobox).

Montreux geht auf den See
Der Leiter des Jazzfestivals Montreux, Mathieu Jaton, mag nicht mehr warten. Er gab noch vor den Festtagen den Plan B bekannt: Eine abgespeckte und intimere Version seines berühmten Festivals. Im Mittelpunkt steht eine spektakuläre Seebühne, die 25 Meter vom Ufer auf dem Genfersee gebaut wird. Die Zuschauerinnen und Zuschauer können die Konzerte von einer 600 Personen fassenden Tribüne verfolgen. Pro Abend sind auf dieser Hauptbühne zwei Konzerte vorgesehen. Geplant sind ausserdem drei weitere Bühnen in den Sälen und Gärten des Hotels Fairmont Le Montreux Palace. Zwei davon (Les Jardins und Grand Hall) werden für das Publikum kostenlos zugänglich sein. Das präsentierte Pandemiekonzept ist ein Grundgerüst und bietet gemäss den Veranstaltern ein hohes Mass an Flexibilität. Das Festival kann den Erfordernissen der Pandemie und den Schutzmassnahmen angepasst werden. Die Chancen stehen also gut, dass die 55. Ausgabe des Jazzfestivals in Mon­treux stattfinden kann. Das Programm wird im Mai bekannt gegeben.

«Wir haben Verständnis für Schutz-Massnahmen und allfällige Einschränkungen. Es wäre unverantwortlich, alles zu ermöglichen. Aber wir müssen endlich wissen, woran wir sind», sagt Bill. Gleichzeitig vermisst er von der öffentlichen Hand ein Bekenntnis zur Open-Air- und Festivalkultur, die in der Schweiz ja besonders dynamisch ist und in der Liste der lebendigen Traditionen Aufnahme gefunden hat. Kantonal wie national ist bei kaum einem Kulturamt ein Einsatz erkennbar, auf Eingaben erfolgt keine Rückmeldung und ein Dialog mit den Leuchtturm-Veranstaltungen findet nicht statt.

«Die populäre Kultur wird diskriminiert, weil sie als kommerziell gilt»,

sagt er. Dabei ist sie für das Wohlbefinden einer breiten Bevölkerung wichtig, und die subventionierte Hochkultur deckt nur einen Bruchteil der Bedürfnisse ab. «Wie sähe dieses Land aus, wenn es unsere «kommerzielle» Kultur nicht gäbe?», fragt Bill.

«Am einfachsten wäre für uns Veranstalter eine frühzeitige Absage oder Verschiebung», sagt Bill, «aber wir kämpfen für unsere Festivals und wollen den Leuten etwas bieten. Wir wollen möglich machen, was möglich sein wird.»

Bill stellt auch existenzielle Fragen:

«Wollen wir die kulturelle Vielfalt langfristig erhalten?»

Die Bedeutung für Wirtschaft und Publikum sei unbestritten, aber Politik und Behörden scheinen den Ernst und die Dringlichkeit der Lage weiterhin nicht zu erkennen. «Die Politiker schweigen und die Verwaltung versteckt sich hinter den Vorgaben. Es geht einfach nichts», sagt er. «Fehlt vielleicht auch der Wille? Kommt es gar gelegen, wenn die Veranstaltenden von sich aus absagen?», fragt er weiter.

Föderalistisches System ist nicht krisentauglich

Ob es Konkurse geben wird, hängt von der finanziellen Unterstützung 2021 und der Ausgestaltung des neu beschlossenen Schutzschirms ab. Doch auch hier gibt es offene Fragen. «Nach wie vor ist unklar, welche Entschädigung Veranstaltende erhalten, wenn die Planung fortgeführt und die Veranstaltung später doch abgesagt werden muss oder nur eingeschränkt durchgeführt werden kann», sagt Stefan Breitenmoser. Eine Erkenntnis ist für Bill aber klar: «Das föderalistische System der Schweiz ist nicht krisentauglich.»

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14 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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chandler
06.04.2021 08:03registriert Februar 2014
Ich bewundere Leute, welche an eine Grossveranstaltung mit mehreren 1000 Zuschauern in 3 Monaten glauben, nachdem wir seit 13 Monaten versuchen aus dieser Scheisse rauszukommen...
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Terraner
06.04.2021 07:59registriert April 2020
Bis Ende Juni haben niemals alle die wollen einen vollständigen Impfschutz. Dazu müsste der erste Piks bereits Mitte Mai stattfinden. Realistischer ist leider eher Ende August oder September.

Nach der ersten Impfung braucht es eine Pause von 3-4 Wochen und erst 10-14 Tage danach ist der Vollständige Impfschutz erreicht.

Fragt sich also ab welchem Zeitpunkt der sogenannte Immunitätsnachweis Gültigkeit erreicht. Darüber habe ich bisher nichts gelesen.
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Marco Rohr
06.04.2021 07:05registriert Februar 2014
Die viel wichtigere Frage ist doch, wieso ein Kanton Aargau geschlagene 8 Wochen braucht, um ein Schutzkonzept zu bewilligen? Wir schlagen gerne auf den Bund und das BAG ein - aber in der Umsetzung scheitert es oft am Föderalismus.
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