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Pöstler zu Corona und wieso die Chefs ihm seine Liebe zum Job verdarben

was ich denke pöstler
Bild: keystone/watson
Was ich wirklich denke

«Heute herrscht bei der Post Chaos»

23.11.2020, 09:2324.11.2020, 09:52
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Was ist «Was ich wirklich denke»?
Wir gestehen: Bei der Idee für «Was ich wirklich denke» haben wir uns schamlos beim «Guardian»-Blog «What I'm really thinking» bedient. Wir mussten fast, denn die Idee dahinter passt wie die Faust aufs Auge auf unseren alten Claim «news unfucked». Es geht darum, Menschen, Experten, Betroffene anonym zu einem Thema zu Wort kommen zu lassen, ohne dass diese dabei Repressalien befürchten müssen. Roh und ungefiltert. Und wenn du dich selber als Betroffener zu einem bestimmten Thema äussern willst, dann melde dich bitte unter wasichdenke@watson.ch.

Die Namen unserer Gesprächspartner sind frei erfunden.

  • Michael ist Pöstler im Raum Zürich.
  • Covid-19 und die Weihnachtszeit bedeuten eine Paketflut, die Michael und seinen Kollegen schlaflose Nächte bereitet.
  • Eigentlich liebt Michael seinen Job bei der Post, aber die Provisions-Gier seiner Chefs nagt an ihm.

Ich habe meine Liebe bei der Post gefunden. In meiner Lehre zum Postbote war es ein Betrieb, in dem man auf Qualität achtete und Recht und Ordnung herrschte. Das war vor gut 20 Jahren. Heute ist das nicht mehr so.

Heute herrscht Chaos. Wagenweise Pakete kommen zu spät und schon die Sortierung kommt nicht mehr nach. Wir sind dauerhaft am Limit und unsere Belastungsgrenze ist längst überschritten. Aktuell habe ich mehr als 100 Stunden Überzeit. Und die Weihnachtsaison hat noch nicht mal begonnen!

«Jeder Basis-Leiter will zuoberst im Ranking sein, damit er die Provision erhält. Die persönliche Bereicherung steht im Vordergrund, nicht der einzelne Pöstler.»

Es ist nicht so, dass ich mir keine Mühe geben würde. Wenn ich am Morgen komme und sehe, wie viele Pakete warten, mach ich alles, um meine Arbeitszeit auszunützen. Manchmal logge ich mich erst später ein oder verbuche eine Pause, die ich dann durcharbeite. Jeden Tag schenke ich der Post rund 45 Minuten, die ich nicht als Überzeit aufschreibe. Die meisten Kollegen machen das auch.

Klar, die Post befielt uns nicht, dass wir das tun müssen. Aber die Chefs sind nur zufrieden, wenn wir alle Pakete möglichst schnell verteilt haben. In meinem Team hat es einen älteren Pöstler, gut 55 Jahre alt. Der ist nicht mehr so schnell. Er hat schon mehrmals einen Rüffel kassiert, er solle mehr Gas geben. Jetzt arbeitet er regelmässig durch, ohne eine Pause.

Kürzlich wurde ein junger Mitarbeiter ermahnt, weil er angeblich zu langsam ist. Er arbeitet seit wenigen Monaten bei der Post und gibt sich wirklich Mühe. Am Anfang war er voller Vorfreude und Tatendrang. Die Ermahnung hat ihn total niedergeschlagen.

Das ist nicht das Einzige: Wenn ein Pöstler auf der Fahrt ein anderes Auto streift oder sonst einen Unfall baut, wird er auch richtig an den Pranger gestellt. Wir haben sogenannte Sicherheitsbeauftrage, die kommen dann und rekonstruieren den Vorfall mit dem Pöstler. Dabei reden die mit einem, als hätte man ein Kind überfahren. Aber diese Missgeschicke passieren ja meistens, weil man dermassen unter Stress ist!

«Die Chefs lieben Corona und Weihnachten. Es bedeutet mehr Pakete.»

Den Kundenkontakt schätzte ich immer sehr an meiner Arbeit. Wenn ich ein Päckli brachte und vielleicht noch ein, zwei Worte wechseln konnte. Seit einigen Jahren ist das nicht mehr möglich – hinfahren, Paket abladen, zum nächsten Kunden. Einige Pöstler klingeln nicht mal mehr, damit sie schneller weiter können.

Klar, es bestellen momentan mehr Leute online, was mehr Pakete bedeutet. Corona hat die Probleme, die schon länger da sind, verschärft.

Die Chefs lieben Corona und Weihnachten. Es bedeutet mehr Pakete. Da gibt es dieses Ranking, welche Basis mit wie vielen Pöstlern die meisten Pakete verteilen konnte. Jeder Basis-Leiter will natürlich zuoberst sein, damit er die Provision erhält. Da steht die persönliche Bereicherung im Vordergrund, nicht der einzelne Pöstler und sein Wohlbefinden.

«Viele Pöstler wehren sich nicht. Ihr Deutsch ist meist schlecht und sie leben in ärmlichen Verhältnissen.»

Wenn man sich über diese Arbeitsbedingungen beschwert, sind die Vorgesetzten immer sehr uneinsichtig. Sie sagen: «Wenns dir nicht passt, kannst du ja gehen!» Oder ein anderes Argument ist: «Ihr habt ja sechs Wochen Ferien und erhaltet gratis Postbekleidung.»

Viele Pöstler wehren sich nicht. 75 Prozent meiner Kollegen sind Ausländer. Ihr Deutsch ist meist schlecht und sie leben in ärmlichen Verhältnissen. Die sind froh, dass sie überhaupt einen Job haben und wollen ihn nicht riskieren. Sie wissen: Vor der Türe warten mehrere Leute, die ihren Job sofort machen würden.

Die Lösung wäre wirklich, dass die Post die Paketlast pro Pöstler reduziert. Dafür müssten sie aber mehr Leute einstellen, mehr Platz schaffen, zusätzliches Material kaufen. Ich glaube nicht, dass sie das tun. Für sie stimmt es ja, die Pakete sind am Abend immer verteilt.

Schön finde ich in diesen Zeiten den kollegialen Zusammenhalt und die Wertschätzung unter den Pöstlern. Er gibt mir einen gewissen Halt und motiviert mich, weiterzumachen. Und ich kann die anderen jetzt nicht im Stich lassen.

(Aufgezeichnet von watson.ch)

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218 Kommentare
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Thomas Rothen (1)
23.11.2020 09:37registriert Juni 2016
Leider genau das Bild, welches "unser" Pöstler im Geschäft auch vermittelt (wir haben Frühzustellung, d.h. gemäss Vertrag müssen unsere Pakete bis 0830 Uhr geliefert sein).
Immer am Anschlag und alles einzig auf Effizienz getrimmt. Das menschliche kostet zu viel... 🙁

(P. S.: Nur, um es klar zu stellen, unser Pöstler macht einen super Job und ist sehr freundlich!)
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Piora
23.11.2020 09:35registriert Januar 2020
stimmt ein schon nachdenklich so eine Geschichte
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wilbur
23.11.2020 09:33registriert März 2019
kenne ich so ähnlich von einem anderen logistikunternehmen, welches mittlerweile der post gehört. da wurden sogar die fahrer in einem internen ranking gelistet.
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Liebe Huberquizzer

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