Applaus brandet durch den Hockeytempel. Stefan Sommer, den Reporter des Kult-Lokalradios Neo1, das jedes Spiel live überträgt, reisst es vom Sitz. Stehend schildert er seinen Hörerinnen und Hörern das aufregende Spektakel bebend vor Begeisterung so mitreissend, dass die wahrscheinlich in der Wohnstube auf der Polstergruppe stehen. Aber die Langnauer liegen hoffnungslos und schmählich 0:6 zurück.
Aus Hockey ist Folklore geworden. In der 49. Minute liefern sich Langnaus Pascal Berger und Luganos Daniel Carr einen Zweikampf. Während der Kanadier zu boxen versucht (so wie das im nordamerikanischen Hockey in solchen Situationen ein althergebrachter Brauch ist), setzt der Emmentaler mehr auf Schwingergriffe. Und gewinnt mit Maximalnote. Stefan Sommer, auch bei Schwingfesten oft vor Ort, ist begeistert.
Pascal Berger wird mit Beifall überschüttet, als er und Daniel Carr in der Kabine verschwinden. Begeisterung und keine Pfiffe beim Stand von 0:6. Am Schluss steht es gar 0:8. Der Optimist sagt: Langnaus Hockeykultur lebt eben nicht nur vom Resultat allein. Die SCL Tigers rocken. Der Realist gibt zu bedenken: Hockey mag zwar der wichtigste Teil der oberemmentalischen Unterhaltungsindustrie sein. Aber es ist bedenklich, wenn Hockey zu Folklore wird. Am Ende des Tages ist Hockey in der National League Spitzensport und die Wahrheit steht oben auf der Resultatanzeige.
Früher waren die Langnauer recht gut berechenbar und Kenner lagen bei Prognosen meistens richtig. Das Wetter im Napfbergland war hingegen unberechenbar. Immer wieder hat ein unerwartetes Gewitter die Heuernte verzögert. Heute wissen die Bäuerinnen und Bauern dank modernsten technischen Errungenschaften ziemlich gut, wie das Wetter wird. Die Wetterentwicklung lässt sich auf dem Smartphone ablesen. Hingegen ist es inzwischen völlig unmöglich geworden, den Gemütszustand der SCL Tigers wenigstens zu erahnen. Obwohl auch die Hockeypropheten – wie die Wetterfrösche – auf modernste technische Hilfsmittel zurückgreifen können.
Jedes Spiel wird heute von zahllosen Video- und TV-Kameras aufgezeichnet, in alle Einzelteile zerlegt, analysiert und wieder zusammengesetzt. Hockey könnte eine so exakte Wissenschaft sein wie die Meteorologie. Aber gerade in Langnau ist daraus im Herbst 2023 Folklore geworden. Die bange Frage: Wie viel Folklore ertragen die SCL Tigers?
Aktuelle
Note
7
Ein Führungsspieler, der eine Partie entscheiden kann und sein Team auf und neben dem Eis besser macht.
6-7
Ein Spieler mit so viel Talent, dass er an einem guten Abend eine Partie entscheiden kann und ein Leader ist.
5-6
Ein guter NL-Spieler: Oft talentierte Schillerfalter, manchmal auch seriöse Arbeiter, die viel aus ihrem Talent machen.
4-5
Ein Spieler für den 3. oder 4. Block, ein altgedienter Haudegen oder ein Frischling.
3-4
Die Zukunft noch vor sich oder die Zukunft bereits hinter sich.
Die Bewertung ist der Hockey-Notenschlüssel aus Nordamerika, der von 1 (Minimum) bis 7 (Maximum) geht. Es gibt keine Noten unter 3, denn wer in der höchsten Liga spielt, ist doch zumindest knapp genügend.
5,2
09.22
5,2
09.23
5,2
01.24
Punkte
Goals/Assists
Spiele
Strafminuten
Er ist
Er kann
Erwarte
Der Saisonstart ist misslungen. Drei besorgniserregende Pleiten mit 20 Gegentoren (3:7 Lausanne, 1:6 Davos, 0:7 SCB) geben früh Anlass zu tiefster Sorge. Krise? Abstieg? Nein. Höhenflug. Der Vertrag mit Trainer Thierry Paterlini wird nach dem 0:7 in Bern demonstrativ verlängert und bald schneit es Siege in Biel, Ajoie und Kloten. Auf eigenem Eis wird gar der Titan Zug gebodigt. In fünf Partien kassieren die Langnauer nur noch fünf Gegentreffer. Es geht aufwärts. Der Himmel hängt schon voller Playoff-Geigen.
In Zürich folgt am Freitag ein erster Rückschlag: 0:3 gegen die ZSC Lions. Niemand ist beunruhigt. In Zürich dürfe man verlieren. Nun kommt am Samstag Lugano. Der perfekte Gegner. Ein weitgereister Hockeykenner, einst ein wichtiger Teil eines Meisterteams, ist nach Langnau gekommen und fragt vor dem Spiel: «Hast du die Schlagzeile schon?» – «Nein, natürlich nicht.» – «Ich habe dir eine: Luganos Künstler scheitern an Langnaus System.» – «So?» – «Ja, die Langnauer sind so gut organisiert und defensiv so stabil, dass Lugano keine Chance hat.»
Und bei Kaffee und Sandwiches hebt ein allgemeines Rühmen der SCL Tigers an. Das Spiel sei wahrhaftig gut strukturiert, jeder mache das, was er könne, die taktische und sonstige Disziplin wird gelobt. Und so weiter und so fort. Dass die Kaffeemaschine zum ersten Mal seit Jahren im Medienraum defekt ist und das belebende Getränk mit heissem Wasser und Pulver zubereitet werden muss, könnte eine Warnung sein. Eine Panne als schlechtes Omen sozusagen. Das ist nicht der Fall. Die Prognosen pendeln sich bei einem 6:1 ein. Auch die aus dem Tessin angereisten Chronisten sind pessimistisch.
Die Partie endet 0:8. Seit dem Wiederaufstieg im Frühjahr 2015 hat es nur eine schlimmere Heim-Niederlage gegeben: am 14. März 2022 mit 1:9 gegen Servette. Aber das war das letzte, völlig bedeutungslose Qualifikationsspiel mit Folklore-Charakter und mit den gänzlich überforderten Junioren-Goalies Tim Baumann und Louis Kurt, die heute in der MyHockey League tätig sind.
Aber beim 0:8 gegen Lugano handelt es sich um ein überaus ernsthaftes Spiel im Herbst in Bestbesetzung. Mit einem Sieg können die SCL Tigers gar Lugano überholen und bis auf den 9. Platz vorrücken und auf dem Weg von den Miserablen zu den Respektablen ein gutes Stück vorankommen.
Es ist bei Lichte besehen die schlimmste Heimniederlage seit dem Wiederaufstieg. Sie ist hockeytechnisch unerklärlich. In der ersten Pause steht es erst 0:1. Der weitgereiste Hockeykenner und der Chronist glauben zu diesem Zeitpunkt an eine Wende. Dieses Lugano sei zu packen. Kein Grund zur Sorge. Die Langnauer hatten in den ersten 20 Minuten mehr vom Spiel (10:5 Torschüsse).
Aber dann löst sich die Mannschaft auf wie der Morgennebel über der Ilfis. Ein Zerfall ohne Beispiel. 8:16 Torschüsse im zweiten. Gar 7:21 im letzten Drittel. Hockey-Folklore in der schlimmsten Form.
Der weitgereiste Hockeykenner und der Chronist sind ratlos und nur in einem Punkt einig: Gut, kommt am Mittwoch der SC Bern. Das ist in dieser Situation der perfekte Gegner.
Unten im Kabinengang hat auch niemand eine Erklärung. Nach solchen Pleiten verlassen die Trainer das Stadion meistens durch den Hinterausgang und meiden die Begegnung mit Chronistinnen und Chronisten. Thierry Paterlini hingegen steht hin und lässt sich auch von Stefan Sommer befragen. Die Begeisterung des Radiomannes über den Pyrrhussieg von Pascal Berger (= ein Sieg, der nichts bringt) ist inzwischen Ernüchterung gewichen.
Langnaus Trainer findet keine Erklärung und ist vom Untergang seines Teams überrascht worden. «Die Vorbereitung aufs Spiel war gut und wir waren zuversichtlich.» Das erste Drittel sei noch gut gewesen. «Aber nach dem dritten Gegentreffer ist es uns nicht mehr gelungen, ins Spiel zurückzukommen.» Die Ratlosigkeit ist so gross, dass auch keine Ausreden vorgebracht werden. Nun müsse er zusammen mit seinen Assistenten erst einmal die Situation analysieren. Am Sonntag haben die Spieler frei. Am Montag geht es weiter.
Langnau ist diese Saison nach einem 3:7 in Lausanne, 1:6 gegen Davos und 0:7 in Bern schon einmal auferstanden und hat anschliessend in 6 von 7 Spielen gepunktet. Aleksi Saarela wusste vor ein paar Tagen, warum: «Niemand hat die Fehler beim Kollegen gesucht. Jeder von uns hat in den Spiegel geschaut und sich gesagt: Ich muss besser werden.»
Eigentlich ist es gar nicht so kompliziert. Am besten verwandelt Thierry Paterlini die Kabine in einen Spiegelsaal.
2. ich würde eher erwähnen, dass dem „Schwingfest auf dem Eis“ ein Stockstich von Pascal B. gegen Carr, zwischen die Beine, voraus ging. Unsportlichkeit hoch 10!