Am Freitag begibt sich Daniela Ryf auf eine Reise ins Ungewisse, so ist das immer, wenn sie nach Hawaii aufbricht. Zwar tut es die 36-Jährige mit der Gewissheit, alles getan zu haben, um bei der Ironman-WM in Bestform an den Start gehen zu können. Doch die Vorbereitung verlief nicht nach Wunsch.
Anfang August war Ryf stark erkältet, wohl eine Coronainfektion. Die Folge war eine entzündete Lunge. Das Atmen bereitete Schmerzen.
Ryf verringerte die Trainingsintensität, achtete noch penibler darauf, ihrem Körper Erholung zu gönnen. Bis zu 14 Stunden am Tag habe sie geschlafen, sagte sie kurz vor Abreise nach Los Angeles, wo sie auf dem Weg nach Kona einen Zwischenhalt einlegt. Ihre Form habe gelitten, sie sei schneller ausser Atem und der Puls höher als vor der Erkältung. Geduld sei gefragt.
In guter Form an den Start gehen zu können, sei in diesem Jahr vielleicht fast die grössere Herausforderung, als um den Sieg schwimmen, fahren und laufen zu können. Zuversicht verströmt die Solothurnerin dennoch. Im Vorjahr sei sie in Höchstform gewesen. Dann erkrankte sie zwei Wochen vor dem Rennen an Covid-19, erreichte den beachtlichen achten Rang. Ryf sagt: «Wer weiss, vielleicht ist es diesmal umgekehrt und ich kann nach einer nicht perfekten Vorbereitung ein perfektes Rennen abliefern.»
Bei ihren vier Siegen von 2015 bis 2018 ist Ryf das auf Hawaii regelmässig gelungen. Beim letzten Sieg brauchte sie für die 3,6 Kilometer im Wasser, 180 Kilometer auf dem Fahrrad und den Marathon (42,195 Kilometer) 8:26:16 Stunden. Die bis heute gültige Rekordmarke. Nicht einmal ein Quallenstich zu Beginn des Wettkampfs konnte Daniela Ryf aufhalten.
Doch die Zeiten hätten sich geändert, sagt Ryf. «Mein Körper ist sensibler geworden, und ich bin schneller müde», sagt sie. Im Training seien nicht mehr die gleichen Intensitäten und Volumen möglich wie in den Jahren davor. Dass der Eindruck nicht täuscht, zeigt auch ein Blick in die jüngere Vergangenheit. 2020 erlitt Ryf einen Bänderriss im Fuss. 2021 hatte sie Gürtelrose, litt unter Schwindelanfällen, Atembeschwerden und einer ausgeprägten Dauermüdigkeit. Ihr Immunsystem spielte verrückt.
Die Ursache konnte nie eindeutig geklärt werden. Eine Pilzinfektion im Magen wurde als mögliche Quelle des Übels vermutet. Ryf machte aus der Not eine Tugend, nahm sich eine längere Pause, begann ein Fernstudium in Wirtschaftspsychologie, baute sich ein Eigenheim und trennte sich nach acht erfolgreichen Jahren zwischenzeitlich von ihrem Trainer Brett Sutton.
Seit Anfang des Jahres arbeitet Ryf wieder mit dem Australier zusammen, obschon dieser inzwischen den Grossteil des Jahres in China lebt. Ryf sagt: «Neben dem Training gewisse Freiheiten zu haben, ist ein Modell, das mir entspricht. Gleichzeitig geniesse ich die Routinen, die ich wieder habe.» Die wertvollste Frucht der Wiedervereinigung ist der Weltrekord bei der Challenge Roth im Juni, als sie den Ironman in 8:08:21 Stunden absolvierte. «Damit ist ein riesiger Traum von mir in Erfüllung gegangen. Das habe ich auch Brett zu verdanken. Es war einer der letzten grossen Ziele», sagt Ryf.
Letzte grosse Ziele? Das klingt nach Abschied. Im kommenden Jahr findet die WM in Nizza statt; dort anzutreten, könne sie sich vorstellen. «Doch ich rechne damit, dass es das letzte Mal auf Hawaii sein wird. Irgendwann wird es Zeit, neue Wege einzuschlagen», sagt Daniela Ryf.
Hawaii ist die Insel, die ihre Karriere, ja ihr Leben geprägt und geformt hat, seit sie 2014 zum ersten Mal dort an den Start ging. «Hawaii hat mir sehr viel gegeben. Dass es das letzte Mal sein könnte, macht es noch spezieller», sagt Ryf. Anders als zuvor reist sie diesmal auch direkt nach Kona, wo das Rennen stattfindet. Sie sagt: «Ich will die Insel auf mich wirken lassen, mich mehr mit ihr beschäftigen und positive Gefühle aufleben lassen.»
Ryf lebt und trainiert einen Grossteil des Jahres in der Höhenlage von St.Moritz, die frühe Anreise drei Wochen vor dem Rennen dient primär der Akklimatisation. Auf Hawaii hat sie eine Wohnung gemietet. Das Leben dort bezeichnet Ryf als unspektakulär und eintönig. Sie sagt: «Es besteht aus Training, Erholung, Essen und Schlaf.» Meist kocht sie selber. Kurz vor dem Rennen stösst eine Kollegin als Betreuerin zu ihr. Nach dem Rennen wird Ryf mit Freunden und Familie ein paar Tage auf Hawaii verbringen.
Von einem Sieg spricht Ryf nicht. Ihr Motto war es schon immer, das zu beeinflussen, was in ihrer Macht liegt, und am Tag des Wettkampfs das Bestmögliche herauszuholen. Mit einem sechsten Triumph, dem fünften auf Hawaii (2022 fand die WM in St.George im US-Bundesstaat Utah statt), würde sie mit Natascha Badmann gleichziehen, die zwischen 1998 und 2005 sechsmal gewann.
Danach gefragt, wen sie als stärkste Gegnerinnen betrachtet, gerät Daniela Ryf fast ins Schwärmen. An der Spitze sei es so spannend wie noch nie, «es wird ein unglaublich spannendes Rennen». Ryf nennt die Deutschen Anne Haug, Siegerin von 2019, und Laura Philipp. Zu rechnen sei auch mit drei Amerikanerinnen, der Vorjahressiegerin Chelsea Sodaro, Kat Matthews und Lucy Charles-Barclay, die schon viermal als Zweite das Ziel erreichte.
Und dann sei da noch eine Athletin, von der man sich wahre Wunderdinge erzähle, die für eine Überraschung sorgen könnte und die sie als stärkste Konkurrentin betrachte. Den Namen wolle sie nicht verraten, sagte Ryf. Doch es dürfte sich dabei wohl um die 25-jährige Amerikanerin Taylor Knibb handeln, die im Sommer in Lahti Halbdistanz-Weltmeisterin wurde. Dass Daniela Ryf auch ihren Namen im Kopf hat, beweist, an wem sie sich auch bei ihrem wohl letzten Start auf Hawaii orientiert: an den Weltbesten.