Es ist ein völlig ungewohntes Bild, das die Tabellenspitze der Liga NOS gerade zeigt. Nach sechs Runden stehen die zwei Giganten Benfica und Porto nur auf den Rängen 2 und 3. Und es ist weder Sporting noch Boavista, weder Braga noch Guimarães, das ganz oben thront. Sondern der krasse Aussenseiter Famalicão. Ein Kleinklub, der erstmals seit einem Vierteljahrhundert wieder in der höchsten Liga ist.
Sicher: Eine Tabelle nach sechs Runden ist mit Vorsicht zu geniessen. Die ersten Gegner waren Teams, die gefühlt vom gleichen Kaliber sind wie Famalicão: Santa Clara, Rio Ave, Guimarães, Aves und Paços Ferreira. Doch gestern, am späten Montagabend, folgte nun ein erstes ganz dickes Ausrufezeichen: ein 2:1-Erfolg bei Sporting.
Beim Blick in die Kaderliste fällt auf: Die zehn Spieler mit dem höchsten Marktwert sind alle von teils namhaften Klubs ausgeliehen. Je zwei von Atlético Madrid und Valencia, ein anderer von den Wolverhampton Wanderers. Klubs, zu denen Jorge Mendes beste Beziehungen unterhält. Es wirkt, als ob der Agent von Cristiano Ronaldo, James Rodríguez und José Mourinho mit Famalicão einen Klub für seine Talente in der zweiten Reihe gefunden hat. Einen, wo sie sich entwickeln können und im Idealfall eine Verstärkung für ihren Besitzerklub werden.
Famalicão gehört dem Unternehmer Idan Ofer, der als einer der reichsten Männer Israels gilt. Und ausserdem mit Jorge Mendes befreundet ist, der ihm Atlético Madrid vermittelt hat. Ofer gehört ein Drittel des Klubs und er soll massgeblich an der Finanzierung des Transfers von Jungstar João Félix beteiligt gewesen sein. Ofer liess sich vor gut einem Jahr von Mendes überzeugen, auch in den damaligen Zweitligisten Famalicão zu investieren. Vor zwei Wochen erhöhte er nun seinen Anteil am Klub von 51 auf 85 Prozent.
Famalicão soll 2021 ein neues Stadion erhalten, bislang spielt es im Estádio Municipal 22 de Junho, einem besseren Sportplatz mit rund 5000 Plätzen. Bereits jetzt wird aber laut Ofer am Fussball von morgen experimentiert. «Wir können hier neue Technologien wie etwa künstliche Intelligenz testen», sagte er dem Magazin «Record», «Dinge, die wir nicht unbedingt mit Atlético Madrid machen können.» Der kleine portugiesische Klub als Versuchslabor.
Von Mendes ist auch bekannt, dass er Verbindungen zu Wolverhampton hat, wo Nuno Espírito Santo Trainer ist, Mendes erster Klient überhaupt. Sieben portugiesische Spieler sind bei den «Wolves» unter Vertrag, fünf werden wie der Coach von Mendes beraten.
Auch Peter Lim, der Besitzer des FC Valencia, ist ein Freund und Geschäftspartner von Jorge Mendes. Im Grunde genommen hat sich der Portugiese ein Konstrukt wie Red Bull aufgebaut, mit Klubs mit verschiedenen Stärken in mehreren Ländern, in denen seine Spieler platziert werden. Offiziell sagt das natürlich niemand, so wie auch Red Bull Salzburg und RB Leipzig auf dem Papier zwei Klubs sind, die laut UEFA-Rechtssprechung nicht miteinander verbandelt sind.
Uros Racic (21) und Alex Centelles (20) können sich mit guten Leistungen wieder zu Valencia spielen, Nehuén Pérez (19) und Nicolas Schiappacasse (20) gehören Atlético Madrid. Der englische U20-Nationalspieler Josh Tymon (20) ist von Stoke City ausgeliehen, der einstige Servette-Spieler Roderick Miranda (28) von Wolverhampton und Toni Martínez (22) von West Ham.
Ihr Trainer, João Pedro Sousa, hat die zusammengeliehene Truppe rasch zu einem Team geformt. Der 48-Jährige steht erstmals in der Verantwortung, nachdem er zuvor viele Jahre als Assistent von Landsmann Marco Silva tätig war, bei Sporting, Olympiakos, Watford und Everton.
Wie sich die Karriere der Talente entwickelt, ist offen. Genau wie die Frage, wie lange sich Famalicão noch an der Spitze halten kann. Am Samstag empfängt es im Norden Portugals den Tabellen-13. Belenenses, danach ist Nationalmannschaftspause. Sollte der Höhenflug im völlig unerwarteten Meistertitel gipfeln, wäre dieser historisch. Zuletzt wurde 2002 mit Sporting weder Benfica noch Porto Meister und ausser diesem Trio gewannen überhaupt nur zwei Klubs jemals den Titel: 1946 Belenenses und 2001 Boavista.
Bruno S.1988