Alles ist möglich. Winterthur als Aufsteiger. Schaffhausen in der Barrage. Aarau versinkt in der Depression. Es ist noch eine Runde zu spielen. Leader Aarau trennen drei Punkte von den anderen beiden Klubs. Poleposition im Aufstiegskampf. Aber verlieren die Aarauer gegen Vaduz und gewinnen die beiden Konkurrenten, werden sie als die Unaufsteigbaren verspottet.
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— FC Aarau (@FCAARAU) May 15, 2022
Hochspannung also bis zum Schluss: Was suggeriert, dass die Challenge League ein besonders verlockendes Tummelfeld ist. Natürlich, Fussballromantiker kommen hier auf ihre Kosten. In Aarau und Winterthur ganz besonders, weil immer ein paar Tausend ins Stadion kommen, nichts auf Hochglanz poliert ist, alles irgendwie ein Stück weit so schnucklig improvisiert wirkt und man sich als das verkauft, was man ist: ein ehrlicher, bodenständiger Fussballklub.
Aber die Challenge League kann auch anders. Selbst in Aarau und in Winterthur gibt es Bilder, die keine Glückshormone produzieren. Beispielsweise, wenn auf dem Brügglifeld Yverdon zu Gast ist, die gesamte Stirnseite hinter dem einen Tor von lediglich drei Menschen besetzt ist. Oder wenn in der modernen Arena in Schaffhausen kaum je die 1000er-Marke geknackt wird, obwohl man im Aufstiegskampf mitmischt. Von den durchschnittlich 474 Fans bei den Heimspielen von Lausanne-Ouchy auf der altehrwürdigen Pontaise ganz zu schweigen.
Eine Sehnsuchtsliga ist die Challenge League höchstens für Menschen, die guten Fussball ohne Glanz, Glamour und VIP-Schnickschnack erleben wollen. Die bereit sind, sich auf eine Zeitreise zu begeben. Weg von der Dauerbeschallung, frei sein von augen- und ohrenbetäubenden Marketinggags.
Aarau und sein Brügglifeld ist das eigentliche Mekka für Fussballpuristen. Hier wird ein Grossteil der Zuschauer nass, wenn es regnet. Hier pinkelt Mann im Freien. Im Brügglifeld steht man. Und ins Brügglifeld geht man. Vorbei an charmanten, 100 Jahre alten Einfamilienhäusern mit ihren putzigen Gärten. Aarau und sein Brügglifeld ist Kult. Zumindest für jene, die das Bedürfnis verspüren, aus dem digitalen, durchgetakteten Alltag auszubrechen.
Hört man sich aber bei den Klubs um, wollen alle lieber früher als später in die Super League. Warum? Weil die Challenge League zu wenig zum Leben, aber genug zum Sterben bietet. Allein in den letzten sieben Jahren wurde Wohlen, Le Mont, Biel und Servette die Lizenz entzogen.
Der FC Aarau weiss, wie sich Höhenluft anfühlt. Von 1981 bis 2010 war er erstklassig. Es kam vor, dass er sich erst im letzten Spiel rettete. Es kam vor, dass er von Zwangsrelegationen anderer Klubs profitierte. Und es kam vor, dass er im letzten Moment den Konkurs abwenden konnte. Trotzig und unnachgiebig verteidigte er seinen Platz. Was ihm den Ruf des «Unabsteigbaren» einbrachte. Trotzdem: Das Leben für den FC Aarau im Kreis der Elite war ein ewiger Tanz auf der Rasierklinge. Erst recht, als die Liga 2003 auf zehn Teams reduziert wurde.
Schon einmal, vor drei Jahren, hatte der FC Aarau neun von zehn Zehen in der Super League. 4:0-Auswärtssieg im Barrage-Hinspiel gegen Xamax. Aufstiegsfeier geplant. Eine kleine Stadt im Ausnahmezustand. Was sollte da noch schiefgehen? Alle wissen es: 4:0 für Xamax und Aus-die-Maus im Penaltyschiessen.
Es gibt Argumente dafür, dass sich diese Geschichte am Samstag nicht wiederholt. Denn der FC Aarau hat sich im Vergleich zu 2019 zum Aufsteigbaren entwickelt. Er ist organisch gewachsen und nicht wie vor drei Jahren kurzfristig aufgehübscht worden, indem man renommierte Spieler wie Neumayr, Schneuwly, Maierhofer, Karanovic und Zverotic verpflichtete. Im Nachhinein entpuppte sich die Aktion als Botox-Kur. Schön für ein paar Abende. Aber wenn man nicht nachspritzt, kommen die Falten wieder zum Vorschein. Der FC Aarau aber konnte nach dieser zu teuren Saison nicht mehr nachspritzen.
Die Geschichte vom Barrage-Trauma hat aber auch viel Gutes. Sportchef Sandro Burki erhält mehr Handlungsspielraum. Und später kommt mit Philipp Bonorand ein Präsident, der Burkis Kurs der Verjüngung und der Identitätsstiftung nicht nur akzeptiert, sondern aus Überzeugung unterstützt und mitträgt.
Bonorand, ein Unternehmer aus der Tierfutter-Industrie, stand selbst jahrelang auf den Stehplätzen im Brügglifeld. Und er würde es wohl heute noch tun, wenn er 2020 nicht Präsident geworden wäre. Obwohl gut situiert, hat er nichts von seiner Bodenständigkeit eingebüsst. Bonorand ist ein Präsident aus dem Volk und für das Volk. Einer auch, der seinen Leuten den Freiraum zur Entfaltung lässt. Aber auch der erste Anwalt seines Klubs, wenn jemand schlechte Absichten hegt.
Burki, Bonorand und Trainer Stephan Keller. Sie sind das Trio grande von Aarau. Jeder ein Typ für sich. Erst recht Keller. Kantig, knorrig und unnahbar wirkt er bisweilen in der Öffentlichkeit. Aber die Mannschaft hat er im Griff. Die Spieler schätzen nicht nur sein Erfolgsdenken und seine Leidenschaft, sondern loben ihn auch für seine empathische Art. Fakt ist: Keller macht die Spieler besser. Die vor zwei Jahren noch kaum beachteten Kevin Spadanuda, Donat Rrudhani und Randy Schneider zählen mittlerweile zum absolut Besten, was diese Liga zu bieten hat.
Aber was kann der FC Aarau in der Super League ausrichten? Das Budget würde von derzeit etwa 6.5 Millionen auf 9 Millionen angehoben. Das ist viel für den FC Aarau, aber wenig für die Super League. Trotzdem kann der Klub eine Rolle spielen, wie sie der FC Thun über Jahre hatte. Jene des ungezähmten Aussenseiters, der hungrigen Spielern eine Plattform bietet und den grossen Klubs jene Spieler für viel Geld verkauft, die diese nie wollten.