Im November 2022 kommt es im Stadion Kleinholz in Olten zu einem der gravierendsten Eishockeyunfälle der letzten Jahre auf Schweizer Eis: EHC-Olten-Stürmer Benjamin Neukom bekommt in einem Bandenzweikampf die Stockschaufel seines Visper Gegenspielers Lou Bogdanoff in sein linkes Auge.
Der Vorfall hat schwerwiegende Konsequenzen: Neukom verliert fast die komplette Sehkraft auf seinem linken Auge. Fünfzehn Monate nach seinem verheerenden Sportunfall verkündete der 32-Jährige nun offiziell sein Karriereende und spricht in einem emotionalen Interview über seine schwerste Zeit. Für das Gespräch wählt der St.Galler das «Rare Street Coffee» in seinem Wohnort Rapperswil aus. Eine Lokalität, die er oft und gerne besucht, sich wohlfühlt. Er bestellt sich einen Caffè freddo – und beginnt, seine Leidensgeschichte zu erzählen.
Wie geht es Ihnen?
Benjamin Neukom: Eigentlich sehr gut. Es sind nun einige Monate vergangen und viel ist passiert. Im Grossen und Ganzen geht es mir gut. Ich bin happy und blicke positiv in die Zukunft.
Der 5. November 2022 ist ein Tag, der Sie für immer begleiten wird. Mögen Sie uns schildern, was Sie noch wissen?
Es war eigentlich ein normaler Spieltag wie immer. Ich hatte auch eine kleine Vorfreude gespürt, weil nach dem Spiel eine Natipause bevorstand. Ich hatte mit Mitspielern und meiner Frau schon einige Dinge geplant, aber es kam dann anders.
Sie wurden von der Stockschaufel eines Visp-Spielers im linken Auge getroffen und dann ins Spital gefahren.
Ich bekam den Stock ins Auge und war dann vielleicht etwa eine halbe Stunde noch im Stadion, bevor eine lange Nacht im Spital auf mich wartete. Irgendwann bekam ich dann auch nicht mehr viel mit, es war mühsam.
Und die Tage danach waren geprägt von der Angst, das Auge zu verlieren?
Absolut. Irgendwann realisierte ich, dass es nicht einfach ein hoher Stock war oder irgendeine Verletzung, die wieder verheilt. Es hat auf der einen Seite grosse Angst gemacht, auf der anderen Seite war die Hoffnung da, dass alles wieder gut wird, was sicher auch damit zu tun hatte, dass die Prognosen der Ärzte unklar waren. Es war schwierig, weil man ganz lange nur das Oberflächliche beurteilen konnte und nicht, was dahintersteckte, weil das Auge voller Blut gefüllt war.
Eine belastende Ungewissheit.
Es waren schwierige Tage, die sehr Angst gemacht haben, weil ich einfach nichts sehen konnte. Ich sah nur schwarz. Ich wurde dann erst am vierten Tag erstmals operiert. In dieser Operation wurde mir die abgetrennte Iris wieder angenäht. Die Ärzte konnten auch danach kaum eine Prognose abgeben. Klar, sie sagten, es sei eher unwahrscheinlich, dass ich wieder 100 Prozent Sehkraft zurückerlange, dass aber die Möglichkeit besteht, dass es wieder gut werden könnte. Aber auch, dass es sehr schlecht enden könnte. Dennoch dachte ich nie ans Schlimmste. Weil schnell mal die Tage kamen, in denen ich wieder mehr und mehr sah und mehr Licht wahrnehmen konnte.
Dann bekamen Sie doch die Gewissheit, dass Sie viel Sehkraft verlieren würden.
Das war etwa sechs Wochen nach dem Unfall, als ich in eine wöchentliche Kontrolle musste. Die eine Woche vorher hiess es noch, man sehe Fortschritte und es werde wieder gut, die Woche darauf wurde mir gesagt, dass es für immer so bleiben wird. Das war schon ein grosser Schock.
Wie äusserte sich damals die Verletzung körperlich?
Ich war noch immer in der Phase, in der sich der ganze Körper daran gewöhnte – vor allem das Gehirn; ich hatte den ganzen Tag Kopfschmerzen, war empfindlich auf Licht, kämpfte mit Schwindelanfällen. Ich musste viele Augentropfen nehmen, die ersten drei, vier Monate brauchte ich viele Medikamente.
Wie erging es Ihnen mental?
Drei bis vier Tage, nachdem ich die Diagnose erhalten hatte, dass es nie wieder gut wird, sagte mir meine Frau, dass sie schwanger ist. Rückblickend hat mich das aufgefangen und sehr gestärkt, dass ich nicht komplett abstürzte. Auf der einen Seite war für mich klar, dass es nicht mehr funktionieren wird mit Eishockey, auf der anderen Seite hatte ich noch eine Hoffnung oder wollte mir sicher nicht eingestehen, dass es von einem Tag auf den anderen fertig ist. Ich hatte gehofft, dass es eine Operation gibt, mit der alles wieder gut wird. Aber auch von den Ärzten war längst klar, dass ich nie mehr professionell Eishockey spielen kann. Und dennoch wollte ich es mir lange nicht eingestehen.
Der Verarbeitungsprozess nahm seinen Lauf.
Als der EHC Olten vor einem Jahr in die Playoffs startete, da hatte ich die Hoffnung, dass ich es vielleicht doch noch irgendwie schaffe, dass es besser wird oder ich mich daran gewöhne, dass ich es in der Saison darauf noch mal probieren kann. Aber das war nicht der Fall. Ich musste einsehen, dass es nicht geht. Und ehrlich gesagt, war es mir das Risiko nicht mehr wert.
Kreisten Ihre Gedanken mehr ums Hockey oder mehr generell um die Zukunft Ihres Lebens?
Die ersten zwei, drei Monate war das Eishockey absolut nebensächlich. Klar, als mir dann gesagt wurde, dass es nie mehr gut wird, habe ich schon auch an das Eishockey gedacht, das war ja auch mein Beruf. Aber es ging eigentlich immer nur ums Privatleben, ich hatte immer auf beiden Augen 100 Prozent Sehkraft, ich trug nie eine Brille, ich wusste nicht, wie das Leben mit eingeschränkter Sicht ist. Es war dann schon heftig.
Mögen Sie ins Detail gehen?
Es war schwierig, damit umzugehen und die Situation zu akzeptieren. Man macht sich viele Gedanken. Sehe ich überhaupt noch etwas? Was ist, wenn mit dem anderen Auge plötzlich auch noch etwas passiert? Was ist im Alter? Sehe ich dann gar nichts mehr? Ich muss jetzt einfach auf das andere, gesunde Auge besonders achtgeben. Immerhin ist es so, dass ich immer noch mit einem Auge sehr gut sehe und auf dem anderen habe ich noch eine Sehkraft von acht Prozent. Ich denke, das hilft trotz allem noch einiges.
Wie sehr sind Sie eingeschränkt?
Der Augenwinkel ist relativ gut, ich sehe einigermassen weit, aber es ist alles milchig und verschwommen. Ich würde mit dem linken Auge nicht mal mehr meine Frau erkennen, wenn sie vor mir steht. Im Gespräch mit einem Gegenüber ist bei dieser Person ab Halsregion alles verschwommen, wie ein grauer Flecken, weil das Sehzentrum so stark vernarbt ist. Aber die restlichen acht Prozent helfen schon sehr, und ich schätze es, dass ich zumindest ein wenig sehe. Ausserdem muss ich die Sonnenbrille viel häufiger tragen, weil ich sehr lichtempfindlich geworden bin, sogar auch, wenn es bewölkt ist. Besonders schlimm ist es, wenn es besonders hell ist. Auch die 3D-Sicht ist noch herausfordernd.
Wie äussert sich das?
Wenn ich über den Tisch hinweg mit einer Flasche Wasser in ein Glas einschenken will, dann geht das nicht. Oder wenn ich ein Glas in die Hand nehmen will, greife ich manchmal noch daneben. Weil ich 30 Jahre normal gesehen habe, hat sich das Gehirn darauf noch nicht einstellen können.
Wie gehen Sie mit der Ästhetik um? Nervt es Sie, dass Ihr Auge ein wenig anders aussieht als zuvor?
Am Anfang störte es mich extrem, wenn ich in den Spiegel schaute. Seit der grossen Operation im Juni ist die Bindehaut etwas gerötet, das ist schon ein wenig störend. Auf Fotos stört es mich etwas, weil ich das Auge mehr geschlossen habe als das andere, weil es halt lichtempfindlich ist. Viele Leute merken es beim ersten Mal gar nicht, erst wenn sie mich genauer anschauen, fällt es vielleicht auf. Ich wurde schon oft gefragt, ob ich an einer Augenentzündung leide. Aber Leute, die ich schon länger nicht mehr gesehen habe, merken es gar nicht. Ich werde kaum darauf angesprochen.
Wie sind Ihre liebsten Mitmenschen mit Ihrem Schicksal umgegangen?
Es war schwierig (atmet tief durch). Meine Frau, die Familie, die engsten Freunde – es hat sie natürlich schon auch sehr belastet. Auch in der Hockeywelt: Es ist eine Verletzung, die man fast noch nie sah oder zumindest sehr selten; es ist irgendwie eindrücklich, aber macht auch vielen Angst. Obwohl es für lange Zeit unklar war, wie schwerwiegend die Verletzung überhaupt ist, haben viele anders reagiert, als wenn ich eine Knieverletzung gehabt hätte. Aber letztlich haben alle mega cool reagiert, ich habe überall grosse Unterstützung gespürt. Das hat gut getan.
Hatten Sie jemals Kontakt mit dem «Täter» Lou Bogdanoff?
Er hat sich ein, zwei Mal bei mir gemeldet. Das habe ich cool gefunden, aber letztlich hat er es ja nicht absichtlich gemacht. Es hätte auch mir in einem Training bei einem Mitspieler passieren können, es ist einfach nur Pech. Mittlerweile sage ich mir, dass es so kommen musste – vielleicht nicht so schlimm, ja, aber es hat wohl alles seine Gründe. Da bin ich ihm überhaupt nicht böse.
Ihre Frau war mitten in Ihrer schwierigen Phase schwanger. Sie lebten mit einer Ungewissheit. Wie erlebten Sie diese Zeit zusammen?
Schwierig zu sagen (überlegt lange). Es war sehr emotional in den ersten Wochen, ja Monaten. Ich ging dann wieder mal an ein Spiel, ich musste irgendwie raus von zu Hause, obwohl es mir gar nicht guttat. Es gab Phasen, die besonders emotional waren, weil es auch Angst gemacht hat, was noch kommt. Es war nicht nur von der Verletzung her vieles ungewiss, auch das Privatleben. Wir waren daran, eine Familie zu gründen, und um die finanzielle und berufliche Zukunft gab es ein riesengrosses Fragezeichen. Meine Frau war meine grösste Kraft, sie hatte eine fast perfekte Schwangerschaft. So haben wir es einfach ausgenützt und die Zeit gemeinsam genossen.
Der Heilungsverlauf erstreckte sich über eine wahnsinnig lange Zeit. Was hat es mit Ihnen gemacht?
Ich bin per se schon ein sehr positiver Mensch, ich habe das Gute gesehen. Mit der Zeit konnte ich mich wieder auf die Zeit nach dem Hockey freuen, ich freute mich schon in den letzten zwei Saisons auf die Zeit danach. Manchmal habe ich das Ganze vielleicht auch heruntergespielt, so getan, als wäre es easy. Dabei war es gar nicht so. Die Geburt meiner Tochter hat dann alles verändert für mich. Die Einstellung zum Leben, die Ansichten generell verändern sich, wenn man Vater ist. Eigentlich wollte ich die ganze Sache vor der Geburt abgeschlossen haben, aber das brachte ich nie zustande. Ich machte aber mit der Geburt meiner Tochter mental einen grossen Schritt.
Nahmen Sie professionelle Hilfe an?
Ich habe mit jemandem zusammengearbeitet und tue das jetzt noch. Ich arbeite daran und rede darüber. Aber auch aus der Hockeysicht: Ich will es nun abgeschlossen haben. Ich ging nun erstmals wieder an ein Spiel in Rapperswil, da ist es zwar noch spezieller als anderswo, weil ich sehr viele kenne, da ich hier aufgewachsen bin. Es wurde schon emotional. Das ist auch schön, dass Erinnerungen aufkommen, aber nun kommt die Zeit nach dem Eishockey.
Wie erlebten Sie den Weg der Entscheidungsfindung, bis klar war: Jetzt ist fertig.
Es war vom Unfall bis heute ein ziemlich langsam vorangehender Prozess in allen Belangen. Eigentlich war schon bald mal klar, dass es fertig ist. Ich wusste, dass es nicht mehr geht, wollte es aber nicht wahrhaben. Es war ja schon nur zu viel, überhaupt ein Spiel zu verfolgen, das Licht in der Halle störte, das Eis mit dem reflektierten Licht war zu viel. Ich wäre so sehr eingeschränkt gewesen, dass ich keine Chance mehr gehabt hätte.
Und dann war da noch die Sache mit der Versicherung?
Das war eine grosse Sache. Da konnten wir endlich Klarheit schaffen, obwohl mein Fall schon bald mal relativ klar war. Es handelte sich ja nicht um ein lädiertes Knie oder einen kaputten Rücken. Ich hatte das Glück, dass ich einen sehr kompetenten Sachbearbeiter erwischte. Die Versicherung war eines der letzten wichtigen Puzzleteile, damit ich das Ganze abschliessen konnte.
Ist die Angelegenheit so verlaufen, wie Sie sich das vorgestellt haben?
Ich wusste zunächst nicht, wie es mit Versicherungen abläuft, bemerkte aber schnell mal: In der Schweiz haben wir ein sehr gutes System und dürfen uns glücklich schätzen. Es gab ein Gutachten, ob die Verletzung tatsächlich so schlimm ist. Der ganze Prozess mit der Invalidenversicherung (IV) nahm seinen Lauf, auch die Abklärungen betreffend Wiedereingliederung, Umschulungen, Jobsuche und so weiter. Und wenn man einen Job gefunden hat, kommt die Frage auf, ob ich ihn überhaupt ausüben darf. Meinen erlernten Beruf als Maurer darf und kann ich nicht mehr ausüben. Der Prozess war wichtig für mich. Nun ist langsam klar, wie es weitergeht.
Wo schlägt es Sie hin?
Ich habe mich dazu entschlossen, mich an der pädagogischen Hochschule zum Primarlehrer auszubilden. Nun muss ich noch einen Studienplatz erhalten, wofür noch einige Hürden zu überwinden sind. Aber ich freue mich darauf, dass ich überhaupt die Chance erhalte, mich noch einmal weiterbilden zu lassen, wieder ein Ziel zu verfolgen und etwas zu machen, das mir Freude bereitet.
Machen Sie sich Vorwürfe, dass Sie sich im Gesicht nicht mit einem Vollgitter geschützt haben?
Vorwürfe mache ich mir keine. Ich hatte schon früher viele Gesichtsverletzungen, vernünftig wäre es gewesen, schon damals zu handeln. Ich weiss, dass es nicht passiert wäre mit einem Gitter. Auf der einen Seite ist es fahrlässig, ich bin total selbst schuld. Auf der anderen Seite passiert verhältnismässig so wenig. Ich sehe es irgendwie immer noch wie früher. Es gibt vielleicht mal zwei Jungs, die es umsetzen und smart genug sind, trotzdem wird es belächelt. Die Junioren bei Rapperswil, die nächste Saison das Gitter abnehmen dürfen, würden es am liebsten schon jetzt tun. Wenn vielleicht mehr ein Gitter tragen würden, gäbe es einen Ruck. Man spricht immer davon, Vorbild zu sein, trotzdem spielt einfach jeder mit einem Halbvisier, jeder macht's.
Trotzdem sorgte Ihr Fall im Schweizer Eishockey bis hinunter zum Amateur- und Plauschhockey für Aufruhr. In der Wahrnehmung haben viele gehandelt.
Es ist sicher super, dass es vielleicht einige gemerkt haben, dass man sich schützen sollte. Ich sage das aber nun in meiner Position, ich würde wohl als Junior wieder gleich handeln, weil es einfach angenehmer ist, obwohl das Gitter eigentlich überhaupt nicht stört. Chapeau vor jenen Spielern, die sich schützen. Und wer es nicht tut, ist einfach wie ich selbst schuld.
Sind Sie sportlich noch aktiv?
Ich habe nun über ein Jahr gar nichts mehr gemacht, habe überhaupt keine Lust mehr auf Eishockey. Ich verfolge es auch nicht mehr so streng, höchstens noch jene Teams, in denen gute Freunde spielen. Auch würde mich niemand mehr ins Fitness bringen, da fehlt mir die Motivation dazu. Früher hatte ich damit ein Ziel verfolgt, nun fehlt mir dieses. Ich habe grossen Spass am Golfen und will häufiger mit dem Velo unterwegs sein. Joggen darf ich aufgrund der Erschütterungen noch nicht. Umso mehr geniesse ich nun die Zeit nach dem Aktivsein sehr, nicht mehr zu müssen und viel mehr zu dürfen. Mal am Freitag- oder Samstagabend ins Restaurant zu gehen oder in die Ferien zu verreisen, wenn es früher unmöglich war, das schätze ich sehr.
Danke, für den tiefblickenden Bericht.
Jungs, schützt euch!! Cool ist, wer den Mut hat entgegen dem Massenstrom und mit Kopf zu handeln. Ich spiele auch mit Vollgitter und Ohrenschutz (nur Hobby aber mir ist der Schutz wichtig)
Beim Fussball sind ja Schienbeinschoner auch Pflicht.