Der 31. Juli 2021 ging mit den Olympiasiegen von Nina Christen und Belinda Bencic sowie der Bronzemedaille von Noè Ponti in die Schweizer Sportgeschichte ein.
Mindestens so wertvoll an diesem verfrühten Nationalfeiertag waren der 5. und 6. Platz von Ajla Del Ponte und Mujinga Kambundji über 100 m. In der Königsdisziplin der Leichtathletik, den beiden wichtigsten der 339 Events an Olympischen Sommerspielen, war die Schweiz erstmals vertreten – und dies gleich doppelt.
Trotz des leisen Ärgers über ihre Final-Zeit von 10,99 und die teaminterne Niederlage empfand Mujinga Kambundji auch eine grosse Genugtuung. «Es ist nicht lange her, da hat es geheissen, wir Schweizer hätten im Sprint sowieso keine Chance.» Niemand habe geglaubt, dass man ähnlich schnell laufen könne wie die Athletinnen der grossen Sprint-Nationen aus der Karibik oder Nordamerika. «Richtig ernst genommen wurden wir nie, deshalb war die Staffel so wichtig.»
Im Final von Tokio, dem schnellsten in der Olympia-Geschichte, stellte Swiss Athletics als einzige Nation neben Dominator Jamaika zwei Athletinnen. «Es war ein langer Weg hierher», sagte Kambundji. Ein Weg, den sie geebnet hat. Mit den Rängen 4 und 5 war die Bernerin 2014 an den Heim-Europameisterschaften in Zürich ins Rampenlicht gesprintet.
Mit ihrer erfrischenden Art eroberte sie die Gunst des Publikums und wurde zum Gesicht einer neuen Generation, welche der Schweizer Leichtathletik eine bessere Zukunft versprach, nachdem diese eine jahrelange Talsohle durchlaufen hatte.
2016 in Amsterdam holte Kambundji mit EM-Bronze über 100 m die erste Medaille. Drei weitere folgten an internationalen Titelkämpfen, wobei die bronzene Auszeichnung über 200 m an den Weltmeisterschaften 2019 in Doha herausragt. Als erste Schweizerin durchbrach Kambundji auch die Schallmauer von elf Sekunden.
2015 habe sie erstmals gespürt, dass das Erreichen der Weltspitze keine Utopie ist. «Aber es braucht dann eben doch noch viel – und bei mir hat es dann auch noch ein paar Jahre gedauert», sagte Kambundji. Manchmal brauche man auch das nötige Wettkampfglück. Dieses hatte ihr in Doha über 100 m gefehlt, als sie als Neunte wegen fünf Tausendstel ihren ersten grossen Final noch knapp verpasste.
«Mujinga hat uns die Türe geöffnet», sagte Ajla Del Ponte. «Sie hat gezeigt, dass man auch als Schweizerin Medaillen gewinnen und unter elf Sekunden laufen kann.» Im Sog von Kambundji entwickelte sich die 25-jährige Tessinerin im von der Corona-Pandemie überschatteten letzten Jahr Schritt für Schritt zu einer Sprinterin von internationalem Format.
Dass sie nun in der Weltklasse angekommen ist, konnte Del Ponte nach ihrem 5. Platz in 10,97 fast nicht glauben. 2012 hatte sie den Olympia-Final als Teenager im Fernsehen verfolgt, nun schaffte es sie am Samstagabend im Olympiastadion von Tokio als erste Schweizerin überhaupt, in einen solchen einzuziehen, bevor es ihr Kambundji wenige Minuten später gleichtat.
«Als junge Athletin war es immer das grosse Ziel, ein Teil der Staffel zu sein», sagte Del Ponte. Die ersten Einzelrennen kamen, dann die ersten Halbfinal-Qualifikationen, und im Frühjahr an der Hallen-EM in Torun die erste Goldmedaille. «Ich hoffe, ich kann damit die nächste Generation ähnlich inspirieren, wie ich inspiriert worden bin.»
Dank dem Schweizer Rekord von 10,91 im Vorlauf und Platz 5 im Final ging Del Ponte als klare Punktsiegerin aus dem Schweizer Duell hervor. Ob es mittelfristig zur Wachablösung kommen wird, wird sich weisen, zumal Kambundji nach eigenem Empfinden ihr Potenzial nicht voll ausgeschöpft hat.
Für den Schweizer Sprint sind das rosige Aussichten, die bereits in Tokio zu einem weiteren historischen Moment führen könnten. Eine Medaille über 4x100 m ist spätestens seit Samstag ein realistisches Ziel – nicht nur für die Athletinnen, sondern auch für die Schweizer Öffentlichkeit. An der WM 2019 in Doha schafften es Del Ponte, Kambundji, Sarah Atcho und Salomé Kora auf Rang 4. Gelingt dem Quartett eine rangmässige Steigerung wäre es die Krönung einer jahrelangen Aufbauarbeit. (ram/sda)