Die Gedanken werden der 21-jährigen Audrey Gogniat aus Le Noirmont nach der starken Qualifikation mit den Luftgewehr durch den Kopf schiessen: Was bringt der morgige Tag? Treffe ich nochmals so gut? Liegt sogar Olympia-Gold drin? Ab 9.30 Uhr ist Gogniat am Montag eine von acht Athletinnen, die mit dem Luftgewehr über 10 Meter um die Medaillen schiessen.
Der Sportpsychologe Jörg Wetzel, der mit der Delegation von Swiss Shooting in Châteauroux 250 km südlich von Paris weilt, hat eine klare Vorstellung darüber, wie sich die Jurassierin nun zu verhalten hat: «Die Nacht zum Final macht die Sache nicht einfacher. Aber: Es ist weder ein Vorteil noch ein Nachteil!»
Es gelte, das ganze Thema der Nacht neutral zu sehen. «Die Besten sind flexibel. Sie sehen diesen Störfaktor der Nacht gar nicht, sondern sie erkennen darin eher eine Chance gegenüber der Konkurrenz.»
Für Wetzel ist «ein gutes System zum Abschalten» entscheidend. Dabei erwähnt er drei Punkte: «Zuerst eine Pause machen, dann den Wettkampf nochmals analysieren, dann neu fokussieren.» Und schliesslich müsse Audrey Gogniat am Montagmorgen auch die ungewohnte Aufgabe mit Scheinwerferlicht Olympia gar nicht bewerten. Sondern ihr Fokus laute: «Du musst die Kugel in die Mitte bringen.»
Die Abgeschiedenheit von Châteauroux abseits des olympischen Dorfes sieht Wetzel als Plus, obwohl doch der Kontakt mit anderen Sportlerinnen und Sportlern als willkommene Ablenkung dienen könnte. «Die Ruhe ist ein Vorteil», betont er: «Ich kenne nur Sportler, die sich zu stark ablenken liessen. Aber nicht solche, die sich zu wenig ablenken liessen.» Der Psychologe vergleicht die Ablenkung mit einem Laden voller Süssigkeiten. «Wenn Du zuviel nimmst, wird es Dir schlecht.»
Audrey Gogniat scheint auf die Situation, vor der sie nun steht, vorbereitet zu sein. «Jetzt gehe ich einmal ein bisschen schlafen und dann noch spazieren. Ich möchte meinen Kopf freihalten», sagt sie am Sonntagmittag unmittelbar nach der hochstehenden Qualifikation.
Sie belegte Platz 3 und erzielte eine persönliche Bestleistung von 632,6 Zählern für die 60 Schuss stehend – das ergibt einen Schnitt von 10,54 bei der Wertung, die bis 10,9 (Volltreffer) geht.
Auch ihr Trainer Enrico Friedemann ist zuversichtlich: «Der Weg in den Final ist das Schwierige», meinte der Deutsche vor zwei Wochen beim Schiesstraining in Biel. «Audrey ist jung und mental stark. Wenn sie im Final steht, dann ist alles möglich.»
Nina Christen hingegen, die WM-Dritte von Tokio, muss am Montagmorgen zuschauen. Sie erhält im Gegensatz zu Audrey Gogniat mit dem Kleinkaliber-Gewehr noch eine zweite Chance und steht dann womöglich ebenfalls vor der Nacht der Nächte.
«Der neue Modus hat Vor- und Nachteile», meint sie. «Einerseits ist der Tag nicht mehr so streng, weil man sich nach der Qualifikation erholen und neu sammeln kann, andererseits werden einige über die Nacht nicht abschalten können.» (ram/sda)