Wenn das Leben von der einen Sekunde zur anderen ändert und man plötzlich mit der grössten Leidenschaft Geld verdient. Von dem dürften noch viele Frauen im Eishockey träumen, Alina Müller hat es geschafft.
Wir schreiben den 18. September 2023. Seit einigen Monaten formiert sich in Nordamerika eine neue Frauenliga. Quasi eine National Hockey League (NHL) für Frauen. Ende August wurde sie offiziell gegründet: die Professional Women's Hockey League.
Jetzt steht der erste Draft an. Das heisst: die sechs Teams der Liga – Montréal, Toronto, Minneapolis, Ottawa, Boston und New York – dürfen sich ihre Spielerinnen aussuchen. Die besten kommen zuerst. Die 25-jährige Winterthurerin ist mit dabei und wartet, bis ihr Name gerufen wird. «Ich fühlte mich dort das erste Mal wie eine Profisportlerin», sagt Müller.
Dann fällt der Satz: «Boston selects Alina Müller.» Es ist ein Satz, der von besonderer Bedeutung ist. Denn sie spielte in den letzten fünf Saisons mit Northeastern University Huskies bereits in Boston und drückte neben dem Eis die Schulbank. Das Studium ist vorbei, den Master hat sie in der Tasche, und mit dem Draft ist sie ab kommenden Januar das erste Mal professionelle Eishockeyspielerin. In Boston.
Müller wird als dritte Spielerin gezogen. Das bedeutet: Sie ist nicht nur die drittbegehrteste Spielerin der Welt, sondern auch die beste Europas. «Ich hätte nie gedacht, dass es so viele Emotionen auslöst und ein so spezieller Moment ist. Das werde ich nie mehr vergessen», sagt Müller.
Und während sie über den Moment spricht, stockt sie immer wieder mit den Worten. Beim ersten Interview direkt danach kämpfte sie mit den Tränen. Heute ist sie gefasster, aber immer noch emotional. «Es war der Moment, als ich wusste, jetzt kann ich meinen Traum für ein paar Jahre leben», sagt sie.
Alina Müller startete ihre Eishockey-Karriere in Winterthur. Zuerst spielte sie einige Saisons bei den Junioren, debütierte später bei den ZSC Lions Frauen. Daneben kurvte sie zuerst bei Winterthur, dann bei Kloten auf dem Eis mit den Junioren herum. Sie spielte etwa mit dem heutigen Davoser Stürmer Simon Knak oder dem SCB-Center Marco Lehmann an der Seite. Doch anders als diese beiden konnte sie bis jetzt nie vom Eishockey leben.
Künftig wird sie mit ihrer Leidenschaft Geld verdienen. Die besten Spielerinnen der neuen Liga erhalten zwischen 80'000 und 100'000 Dollar. In den letzten Saisons im College war dies noch anders: «Man lebt als Profi, aber bekommt nicht das zurück», sagt sie. So fokussierte sie sich neben dem Eis auf ihr Studium. Sie habe immer gehofft, dass sie einmal mit dem Sport Geld verdienen würde, aber: «Richtig daran geglaubt habe ich nicht.» Bis die neue Liga ins Rollen kam.
Zum ersten Mal wollte sie professionelle Eishockeyspielerin werden, als ihr Bruder Mirco die Karriere in der NHL startete. «Ich hoffte, dass es mir auch so geht wie meinem Bruder», sagt sie.
Mirco Müller debütierte im Jahr 2014 in der NHL bei den St. Jose Sharks und spielt seit drei Saisons beim HC Lugano. Nun kann Alina Müller ihrem Bruder nacheifern.
Der Draft brachte ihr Handy beinahe zum Abstürzen. «Das letzte Mal, als ich so viele Nachrichten erhalten habe, war nach der Bronzemedaille an der Olympia», sagt sie und grinst.
Unter den vielen Nachrichten befand sich auch eine des ehemaligen Natitrainers Ralph Krueger: «Dass jemand, der so viel erreicht hat, trotzdem eine kleine Schweizerin verfolgt, hat mich sehr überrascht», so Müller. Die andere Rückmeldung kam überraschend vom Vater ihres Gottis. Er sei im Spital nach einer Operation aufgewacht und wurde wegen des Drafts aufgemuntert, erzählt sie und fügt hinzu: «Es ist mir viel mehr wert, wenn ich anderen eine Freude machen oder sie inspirieren kann.»
Und eine Inspiration ist Alina Müller längst. Ob als Olympia-Bronze-Gewinnnerin oder als bodenständige Winterthurerin neben dem Eis. «Manchmal denke ich mir, wie ich das verdient habe», sagt sie. Doch dann probiere sie es sich jeden Tag wieder zu verdienen. Tägliche harte Arbeit und Bodenständigkeit, auch das gehört zu Alina Müller. «Im Moment gibt mir das Leben viel mehr, als ich mir je erträumen konnte», sagt sie.
Sie möchte deshalb den jungen Spielerinnen aufzeigen, dass es nun möglich sei, als Frau Eishockeyprofi zu werden. Weiter will sie wieder erfolgreich sein mit der Nati. «Es ist wirklich langsam Zeit für eine Medaille», sagt sie.
In ihrer Karriere hat sie die Entwicklung des Frauenhockeys hautnah miterlebt. Aber sie zieht ein ernüchterndes Fazit: «Es hat sich nach Sotschi leider noch nicht so viel geändert.» Zwar setzen immer mehr Schweizer Klubs auf Frauenteams. Doch: «Der Respekt gegenüber uns ist immer noch ein Unterschied zu den Männern», sagt sie.
Während die Frauen in den USA sich bei den Trainingszeiten mit den Männern abwechseln, trainieren die Frauen in der Schweiz meist spät abends. «Es ist wichtig, dass auch die Männerseite sieht, dass wir gleich viel trainieren und gleich viel machen für diesen Sport», sagt Müller.
Bevor sie im November nach Boston fliegt, sammelt sie bei den ZSC Lions Frauen Spielpraxis und Vertrauen. Erstmals seit März 2018 spielt Müller wieder im Dress der Zürcherinnen. Bei ihrem Debüt gelingen ihr gegen Neuchâtel gleich fünf Treffer.
Im Vorfeld des Saisonstarts sagte sie noch: «Es ist nicht so einfach, wie es aussieht.» Doch die Realität zeigt, Alina Müller ist viel zu gut für das Schweizer Eishockey. «Irgendwann möchte ich wieder zurück in die Schweiz kommen und hier das Fraueneishockey voranbringen, doch im Moment lebe ich meinen Traum.» (aargauerzeitung.ch)