Stunden nach dem Hauptakt brandet auf dem Centre-Court noch einmal Jubel auf. Noch einmal werden Pokale verteilt. Noch einmal werden Reden gehalten. Noch einmal steht die Schweiz im Mittelpunkt: Martina Hingis (36) gewinnt mit dem Briten Jamie Murray das gemischte Doppel. Für sie ist es 20 Jahre nach ihrem Einzel-Erfolg der 23. Grand-Slam-Titel. Was anderswo für Jubelarien sorgt, ist in der erfolgsverwöhnten Schweiz derzeit nur eine Randnotiz. Denn zeitgleich feiert Roger Federer mit Freunden und Familie seinen historischen achten Wimbledon-Sieg. Und gibt danach zu, dass er etwas zu heftig gefeiert hat.
Seit über zwei Jahrzehnten ist die Schweiz im Tennis eine Weltmacht. Seit 1997 war sie nur einmal (2013) nicht im Final eines der vier Grand-Slam-Turniere vertreten. Mit Roger Federer bei den Australian Open und in Wimbledon sowie bei den US Open Stan Wawrinka, der zudem bei den French Open im Final stand, stellt sie bei drei der vier wichtigsten Turniere den Titelhalter. Rekordjäger Roger Federer hat seit 2003 19 davon gewonnen, Martina Hingis kommt auf 5 Einzeltitel, Stan Wawrinka auf deren 3. In den letzten 20 Jahren haben sie für 27 Grand-Slam-Titel gesorgt. Dazu kommen 511 Wochen an der Spitze der Einzel-Weltrangliste, Olympia-Medaillen und 2014 der Triumph im Davis-Cup.
Gemessen an der Einwohnerzahl eine erstaunliche Bilanz, die Tennis-Nationen wie Spanien (21), Frankreich (4), oder Deutschland (3) die Schamesröte ins Gesicht treibt. Für Aussenstehende muss es so wirken, als würden die Strippenzieher des Schweizer Tennis über einen Zaubertrank verfügen, der laufend neue Sieger produziert. Doch die Frage, was die Schweiz im Tennis zur Premiummarke gemacht hat, ist vielschichtig, komplex und nicht abschliessend zu beantworten.
Roger Federer ist ein Ausnahmetalent, dessen Eltern die Ausbildung in die Hände des Verbandes gelegt haben. Martina Hingis bereits auf dem Tennisplatz, als sie kaum über die Netzkante sehen konnte. Stan Wawrinka gehört als Junior nicht zur ersten Garde, verlässt mit 15 sein Elternhaus und legt mit Trainer und Freund Dimitri Zavialoff im spanischen Castelldefels, einem Küstenort in der Nähe Barcelonas, den Grundstein für seine Karriere.Ihre Biografien sind so verschieden wie der familiäre und kulturelle Hintergrund. Federer, dessen Mutter aus Südafrika stammt, wächst in einem bürgerlichen Haushalt auf. «Ich war bloss ein kleiner Junge, der sich wagte, grosse Träume zu haben.» Wawrinka, sein Vater Wolfram hat deutsche und polnische Wurzeln, wächst auf einem Bauernhof auf. Martina Hingis kommt in Kosice, in der heutigen Slowakei, zur Welt und zieht mit acht Jahren ins Rheintal.
Ein Faktor für den Erfolg mag die Vergangenheit als Einwandererland sein. In der Hochpreisinsel lässt sich mit Tennislektionen gutes Geld verdienen, das zieht nach 1968 zahlreiche Exil-Tschechoslowaken in die Schweiz. Zu ihnen gehört auch Adolf «Seppli» Kacovsky, der in Basel Federers erster Trainer ist. Mit dem 2002 bei einem Autounfall tödlich verunglückten Peter Carter, einem Australier, der bei den TC Old Boys als Trainer arbeitete, legt ein weiterer Ausländer den Grundstein in Federers Karriere. Heute gibt es hier rund 16 000 gut ausgebildete Personen, vom Jugendsportler bis zum professionellen Coach.2010 wird das Leistungszentrum in Biel um eine Akademie ergänzt, die auch Ausländern offensteht. Seither trainieren dort Spielerinnen wie die ehemalige Nummer 1, Caroline Wozniacki. Gute Trainingspartner für den Nachwuchs, für den mit Yves Allegro ein Ehemaliger verantwortlich zeichnet. Der Walliser gehörte im Doppel einst zur Weltspitze, nun möchte er zum Beispiel Simona Waltert (16), die in Wimbledon die Halbfinals erreichte, dorthin führen.
Trotzdem ist und bleibt Tennis ein Einzelsport. Dem trägt auch der Verband Rechnung und ist für individuelle Wege offen. Wie bei Belinda Bencic, Stefanie Vögele oder Henri Laaksonen, der lange in Finnland trainierte. Ohne finanzielle Unterstützung bleibt der Vorstoss an die Weltspitze Wunschdenken. Hier kommt Tennis-Mäzen Reinhard Fromm ins Spiel. Er alimentierte Stan Wawrinka bereits in frühen Jahren. Heute tritt er unter anderem bei Timea Bacsinszky, Henri Laaksonen und Rebeka Masarova als Geldgeber auf.
Wohlstand, Innovation und kurze Wege begünstigen das Tenniswunder. «Als Kind ging ich meist mit dem Fahrrad, zu Fuss oder mit den Inlineskates zum Tennisplatz», erinnert sich Martina Hingis. Swiss Tennis zählt 3619 Plätze, 607 davon in der Halle. Die Zahl der Lizenzierten hat seit 2003 zwar um 15'000 abgenommen, beläuft sich aber immer noch auf 160'000. Erfreulich stabil ist die Zahl der Junioren (14'000). Deshalb stehen die Chancen gut, dass die Erfolgsgeschichte auch nach Federer und Konsorten eine Fortsetzung findet. Rund 2.7 Millionen Franken investiert Swiss Tennis jährlich in den Spitzensport.
Ohne Heinz Günthardt (58), der heute ebenso eloquent wie fundiert für das Schweizer Fernsehen kommentiert und beim Verband als Berater tätig ist, hätte es die Karrieren von Hingis oder Federer vielleicht nie gegeben. Als er sich in den 1980er-Jahren dem Tenniszirkus anschliesst, ist die Schweiz auf der Tennis-Weltkarte noch ein weisser Fleck. 1985 gewinnt er im Doppel als erster Schweizer in Wimbledon ein Grand-Slam-Turnier. Selber sagt er, wenn es ein Rezept für den Erfolg gäbe, hätten grössere Nationen wie die USA, Frankreich oder Deutschland es längst kopiert. Die Gründe für das Schweizer Tenniswunder scheinen zahlreich, und doch bleiben sie schwer fassbar. Denn wie erfolgreich eine Karriere verläuft, hat letztlich auch viel mit dem Faktor Zufall zu tun.