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Radfahrerin Noëlle Rüetschi über mentale Gesundheit im Spitzensport

08-09-2021 European Championships Cronometro Junior Women 2021, Svizzera Ruetschi, Noelle PUBLICATIONxNOTxINxITAxFRAxNED
Noëlle Rüetschi im Einsatz an der Junioren Weltmeisterschaft.Bild: www.imago-images.de

«Es fühlte sich an, als würde ich ertrinken» – Schweizer Radtalent über Mentale Gesundheit

Die 20-jährige Noëlle Rüetschi ist ein Nachwuchstalent im Schweizer Radsport. Doch nicht alles im Spitzensport ist schön. Die Aargauerin spricht über mentale Gesundheit und darüber, wie sie das Schamgefühl ablegen konnte.
30.12.2024, 18:55
Melinda Hochegger / ch media
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Ostern 2024: Noëlle Rüetschi sitzt mit ihren Eltern im Auto, sie fahren von Belgien in die Schweiz. Doch die Stimmung ist bedrückt. Rüetschi weint und weint. «Ich konnte einfach nicht aufhören», erinnert sich die 20-Jährige. Als Radfahrerin zählt Rüetschi zu den grossen Nachwuchstalenten der Schweiz. Doch an diesem Tag gerät das in den Hintergrund. Hinter ihr liegt ein enttäuschendes Rennen, vor ihr ein schwerwiegender Entscheid.

«Seit ich 13 Jahre alt bin, bin ich in Therapie»

Was ist passiert? Um Rüetschis Geschichte erzählen zu können, starten wir im Jahr 2017. Die damals 13-Jährige gesteht sich zum ersten Mal ein, psychologische Hilfe zu brauchen. Weil sie extrem mit sich selbst hadert, begibt sich die Aargauerin in Therapie. «Es hat eigentlich schon viel früher angefangen. Ich wollte es nur nicht wahrhaben», erinnert sich Rüetschi.

Sie habe schon immer ein recht niedriges Selbstwertgefühl gehabt, sich gefragt, ob sie genüge, so Rüetschi. Mit dem Essen, dem Leistungssport und der Schule habe sie dann ein Stück Kontrolle übernehmen können. «Genetics load the Gun, but the environment pulls the trigger», ergänzt sie. Mit dieser Aussage (zu Deutsch: «Gene laden die Waffe, aber die Umwelt drückt ab») deutet Rüetschi die Missstände im Spitzensport an. Es gehe vielen ähnlich, aber niemand spreche darüber. «Es ist sicher nicht das beste Umfeld, um gesund zu werden», so Rüetschi.

Auch weil das Thema so tabuisiert ist, schämt sich Rüetschi damals für ihre Gefühle. Niemand aus ihrer Sportlerwelt weiss, wie es ihr geht. Sie stürzt sich in die Schule, den Sport und lenkt sich ab, um dem Problem nicht in die Augen sehen zu müssen. Das funktioniert, bis gegen Ende 2019 ihr Körper nicht mehr mitmacht.

Für das, was Rüetschi leistet, isst sie zu wenig. Als sich die Folgen bemerkbar machen, artet ihr Essverhalten aus. Sie beginnt, alle Emotionen durch das Essen oder Nichtessen zu regulieren, setzt sich selbst und ihren Körper also weiterhin enorm unter Druck. «Ich war müde, kam teilweise fast nicht mehr aus dem Bett und habe phasenweise nur geweint.»

Trotzdem macht Rüetschi weiter. Ganz nach dem Motto: «Irgendwie wird es schon gehen.» Nach aussen scheint die damals 15-Jährige wie ein normaler Teenager. Nur ihre Eltern und ihre Trainerin wissen, wie es ihr wirklich geht.

In den Jahren danach folgen viele gute Momente und Erfolge, aber auch immer wieder Phasen, in denen die Essstörung und die Depression lauter werden.

Die Klinik als Neustart

Wir springen zurück ins Jahr 2024. Mittlerweile fährt Rüetschi für ein belgisches Team. An Ostern holen ihre Eltern sie in Belgien ab. Das Rennen, das sie an diesem Wochenende bestritt, lief nicht gut, Rüetschi stürzte. Insgeheim weiss sie, dass sie eine Pause braucht, doch noch immer klammert sie sich daran fest, dass es dann irgendwie doch funktioniert, es ihr wieder besser geht. «Das war ja immer so.»

Einige Wochen lang versucht Rüetschi weiter zu machen. Doch ihr Körper, vor allem ihr Kopf, sträubt sich mit allen Mitteln. Sich zu konzentrieren fällt ihr schwer. «Beim Einparkieren bin ich dann in etwas hineingefahren. Da wusste ich, dass es so nicht weitergehen kann.» Rüetschi ist am Ende ihrer Kräfte und gesteht sich dies erstmals ein.

«Es fühlte sich an, als würde ich ertrinken. Ich bin einfach nur geschwommen.»

Der Entscheid, nicht nach Belgien zurückzukehren und vorerst keine Rennen mehr zu bestreiten, ist kein einfacher. Doch wenn sich Rüetschi daran erinnert, weiss sie, dass es der richtige war.

Es folgen Gespräche mit ihrer Therapeutin und ihrem Psychiater. Rüetschi beginnt, Medikamente zu nehmen. Doch sie verträgt diese nicht. Tagelang kommt sie fast nicht aus dem Bett, weint nur noch, leidet an Muskelzuckungen.

Auch damals wissen nur ihre Eltern und ihr Freund davon, wie es ihr wirklich geht. «Einige Tage bevor ich in die Klinik ging, sass eine meiner besten Freundinnen bei uns am Tisch. Aber ich konnte es ihr nicht sagen... Ich konnte es einfach nicht.»

Schliesslich zieht ihr Psychiater die Notbremse. «Er sagte mir, dass es ambulant oder draussen so nicht mehr weitergehe, dass ich eine Klinik brauchen würde, in der sich um mich gekümmert werden kann.» Einen Tag später geht Rüetschi in eine Klinik, viereinhalb Wochen bleibt sie dort. «Ich dachte, es sei das Ende der Welt, aber eigentlich war es der Anfang von einem ‹neuen› Leben», erinnert sich Rüetschi. Die Gespräche mit anderen Betroffenen haben ihr geholfen, das Schamgefühl Stück für Stück abzulegen.

Dass es jeden treffen kann, vom Teenager bis zum 90-Jährigen, vom erfolgreichen Geschäftsmann bis zum Spitzensportler, habe ihr gezeigt, dass sie nichts dafür könne. «Ich habe natürlich auch viel gesehen, was man eigentlich nicht sehen will. Aber rückblickend war es die beste Entscheidung, die ich hätte treffen können.»

Rückfälle und Druck an sich selbst

Als Rüetschi aus der Klinik entlassen wird, sogleich in die Ferien geht, kommt ein Rückfall. «Ich bin mit meinem Freund, dem Radprofi Jan Sommer und noch einem befreundeten Pärchen ins Trainingslager mit. Das war rückblickend nicht die beste Entscheidung, ich habe mir selbst sofort Druck gemacht, auch wieder leistungsmässig Velo zu fahren.»

Jan Sommer from Switzerland of Swiss Cycling during the seventh stage, a 118.1 km race in Villars-Sur-Ollon, at the 87th Tour de Suisse UCI World Tour cycling race, on Saturday, June 15, 2024. (KEYSTO ...
Jan Sommer ist der Freund von Noëlle Rüetschi.Bild: keystone

Dass ihr Freund ebenfalls ein Leistungssportler sei, sei nicht immer einfach gewesen. Zwar habe er enorm viel Verständnis gezeigt und Rüetschi versichert, dass es ihm keine Rolle spiele, ob sie Velo fahre oder nicht. Gleichzeitig sei sie aber neidisch darauf gewesen, dass er seinen Traum leben konnte und sie nicht. «Es ging lange, bis ich verstand, dass diese Eifersucht nicht böse gemeint war. Ich hatte einfach noch nicht akzeptiert, dass ich eine Pause brauchte.»

Sie nimmt sich vor, keine Rennen mehr zu bestreiten und nicht wie geplant noch in der laufenden Saison zurückzukehren. Das Sportgymi an der Alten Kanti Aarau wird sie, weil sie ins letzte Jahr kommt, so oder so beenden können. «Das hat mir dann endgültig den Druck genommen.»

Die Traumlösung wird Realität

September 2024. Es wird viel über ein neues Radteam in der Schweiz gemunkelt. Dann erhält Rüetschi das entscheidende Angebot. Ein neues Team von Swiss Cycling, «Nexetis», wird ins Leben gerufen – Rüetschi soll dabei sein.

«Es ist die momentane Traumlösung. Alle im Team wissen, wie es mir ging. Ich kann erstmals offen damit umgehen.» Es ist das erste Mal während des gesamten Gesprächs, dass Rüetschi lachen kann. Sie erzählt von besonderen Konditionen, die es ihr leichter machen, zurückzukehren. «Man gibt mir Zeit, alle wissen, dass ich noch nicht heute und morgen bereit bin, um Rennen zu bestreiten.»

Das Team von NEXETIS stellt sich für ein Gruppenfoto auf mit den Mitgliedern Anna Wiese, Teammanagerin, Larissa Tschenett, Noelle Ruetschi, Jasmin Liechti, Noelle Ingold, Nika Bobnar, Gina Caluori, Le ...
Das Team Nexetis. (Rüetschi dritte von Links)Bild: keystone

Es ist beeindruckend, wie reflektiert Rüetschi über die Geschehnisse erzählt. Immer wieder betont sie, was sie Positives mitgenommen hat. Das Schamgefühl, es ist extrem viel kleiner. Doch sie weiss, dass es vielen anderen gleich geht wie ihr. «Ich will darüber sprechen und offen sein, damit andere auch Hilfe suchen.» Die Themen Essstörung und Depression sowie Klinikaufenthalte seien zu stark tabuisiert und stigmatisiert.

Mittlerweile geht es Rüetschi besser. Trotzdem: Die psychische Erkrankung ist ein steter Begleiter in ihrem Alltag, tagtäglich brauche es Arbeit, um an dem Punkt zu bleiben, an dem sie heute ist. Ihr haben Artikel über ebenfalls betroffene Spitzensportlerinnen geholfen, erzählt sie. Wenn andere darüber sprachen, was sie durchgemacht haben, dann habe sie sich weniger alleine und «extrem verstanden» gefühlt.

Auch deswegen startete Rüetschi vor kurzem mit einem Blog, in dem sie ihre Gedanken teilt. «Ich weiss, ich kann die Welt nicht ändern, aber wenn ich mit meiner Geschichte jemandem helfen kann, dem es gleich geht, dann habe ich mein Ziel erreicht.» (riz/aargauerzeitung.ch)

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