Was mussten die Mittelmeer-Staaten vor rund einem Dutzend Jahren alles einstecken: Während der Euro-Krise wurden sie als «Schweine» beschimpft, weil die Initialen von Portugal, Italien, Griechenland und Spanien das englische Wort PIGS bilden. Die «Bild»-Zeitung forderte die Griechen auf, Inseln zu verkaufen, um so ihren Staatsschulden-Berg abzutragen, derweil der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn seinen Landsleuten vorrechnete, wie viele hundert Milliarden fiktive Euros ebendiese PIGS ihnen angeblich via die sogenannten Target-2-Salden (fragt nicht) schulden würden.
Die sich anbahnende neue Weltordnung stellt jetzt auch die Wirtschaftsordnung in Europa auf den Kopf. Plötzlich sind es die Volkswirtschaften im Norden, die seit Jahren am Rande einer Rezession schrammen, während die Mittelmeer-Staaten inzwischen über Facharbeitermangel klagen.
Die Zahlen sind eindrücklich: Seit 2020 ist das Bruttoinlandprodukt (BIP) der PIGS-Staaten durchschnittlich jährlich um 1,5 Prozent und in der Summe um 6 Prozent gewachsen. Deutschland, Europas grösste Volkswirtschaft, verzeichnet im gleichen Zeitraum praktisch null Wachstum und die Stagnation dürfte auch im laufenden Jahr anhalten. Auch in den Benelux-Staaten ist die wirtschaftliche Lage alles andere als rosig.
Drei Gründe haben dazu geführt, dass sich das wirtschaftliche Schicksal ins Gegenteil verkehrt hat:
Geradezu exemplarisch zeigt dies die wirtschaftliche Entwicklung von Deutschland und Spanien auf. Der ehemalige Exportweltmeister befindet sich in einer Agonie, das deutsche Wirtschaftsmodell ist zusammengebrochen. Schuld daran sind einmal die wegen des Krieges in der Ukraine gestiegenen Energiepreise. Vom billigen russischen Gas haben die Stahl-, die Auto- und die chemische Industrie gleichermassen profitiert.
Besonders das Herz der deutschen Wirtschaft, die Autoindustrie, befindet sich in einem misslichen Zustand. China war einst der grösste Exportmarkt für VW & Co., jetzt sind BYD & Co. zu den grössten Konkurrenten auf dem Weltmarkt geworden, weil die Deutschen den Wechsel zum Elektroauto verschlafen haben.
Auch die viel gerühmten, mittelständischen Unternehmen glänzen nicht mehr wie einst im Mai. Sie «haben sich auf kleine Innovationen beschränkt», stellt der «Economist» fest. «Deshalb waren sie nicht auf technologische Schocks wie die Ankunft der Elektroautos vorbereitet.»
Die Energiekosten sind nicht der einzige Grund. Deutsche Ingenieurskunst ist in der analogen Welt nach wie vor führend, in der digitalen Welt hingegen ist der Anschluss verloren gegangen. Das letzte erfolgreiche Start-up war die Softwarefirma SAP, und es wurde Anfang der Siebzigerjahre gegründet.
Ganz anders die Situation in Spanien, das sich zum europäischen Musterknaben gemausert hat. Letztes Jahr ist das spanische BIP um 3,1 Prozentpunkte gewachsen. Damit wurde selbst das Wachstum in den USA übertroffen. Es handelt sich dabei nicht um ein Strohfeuer. Im laufenden Jahr sollen es gemäss der Prognose der Zentralbank erneut 2,5 Prozentpunkte werden.
Nicht nur der boomende Tourismus ist der Grund für diese Entwicklung. Zwar werden die spanischen Strände und Städte von ferienhungrigen Ausländern in einem Ausmass überrannt, dass die Einheimischen gegen diesen «Overtourism» zu protestieren beginnen. Generell hat sich die Wirtschaft gut an die neuen Verhältnisse angepasst.
Während die Deutschen auf billiges russisches Gas gesetzt haben, bauten die Spanier ihre Solar- und Windenergie massiv aus. Mehr als die Hälfte der gesamten Energieproduktion stammt inzwischen aus nachhaltigen Quellen. Das nützt nicht nur der Umwelt. «Das Resultat besteht darin, dass die Kosten für die Elektrizität tiefer sind als in vielen anderen EU-Ländern», stellt die «Financial Times» fest. Und das wiederum führt dazu, dass Unternehmen wie Amazon ihre energieintensiven Datenzentren nach Andalusien verlegen und damit tausende von neuen Arbeitsplätzen schaffen.
Anders als die Deutschen müssen die Spanier auch weniger Angst vor den Strafzöllen haben, mit denen Trump droht. Der Dienstleistungs-Anteil ihrer Wirtschaft ist höher, als dies in Deutschland der Fall ist, und Dienstleistungen stehen nicht im Fokus der amerikanischen Zoll-Falken.
Ein gewisses Mass an Schadenfreude kann man den Menschen in den Mittelmeer-Staaten nicht übel nehmen, denn die Beleidigungen während der Eurokrise sind noch nicht vergessen. Sie sollten jedoch rasch darüber hinwegkommen. Um nicht von der amerikanischen und der chinesischen Übermacht erdrückt zu werden, zwingt die neue Weltordnung Europa dazu, stärker, ja viel stärker zusammenzurücken. Das ist das Fazit eines Reports, den Mario Draghi, der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank, im Auftrat der EU-Kommission im vergangenen Herbst erstellt hat.
Anstatt auf Teufel komm raus in die USA zu exportieren, sollen die Europäer für einen eigenen grossen Binnenmarkt sorgen, rät Draghi in seinem rund 400 Seiten umfassenden Report. Damit dies geschehen kann, müssen die noch bestehenden Barrieren in diesem Markt abgebaut werden. Nur so können die europäischen Unternehmen im gleichen Mass von den Skaleneffekten profitieren, wie dies ihre amerikanischen und chinesischen Konkurrenten tun.
Auch die europäischen Forschungskapazitäten müssen vermehrt zusammengelegt werden. Analog zum amerikanischen Vorbild DARPA schlägt Draghi die Schaffung einer ARPAS vor, einer European Advanced Research Projects Agencies.
Auch die Finanzmärkte müssen vereinheitlicht werden. Nur so kann genügend Wagnis-Kapital für Start-ups bereitgestellt werden. «Ohne eine Kapitalmarkt-Union wird es keinen Green Deal geben», erklärt auch Christian Sewing, der CEO der Deutschen Bank.
Schliesslich muss endlich die Austeritäts-Mentalität überwunden werden. Will Europa wettbewerbsfähig bleiben, muss es viel Geld in die Hand nehmen. Draghi rechnet vor, dass jährlich gegen 800 Milliarden Euro für zusätzliche Investitionen eingesetzt werden müssen. Das wird nur möglich sein, wenn kleingeistiges nationalistisches Denken und der beinahe religiöse Glaube an eine Schuldenbremse überwunden werden.
Kein Wunder, wählen die Spanier traditionell Sozialdemokratisch.
Bin etwas neidisch, muss ich zugeben.