Dass wir uns am Ende eines langen Zyklus befinden, ist eine weit verbreitete Ansicht unter Philosophen, Sozialwissenschaftlern und Intellektuellen aller Schattierungen. Ihre Bücher füllen Regale, und ihre Botschaft lautet unisono: So kann es nicht weitergehen. Wir stehen am Anfang einer neuen Ära – oder des Untergangs der Menschheit.
Die Zyklus-These lässt sich zwar nicht wissenschaftlich nachweisen, sie fühlt sich jedoch intuitiv richtig an. Schuldenzyklen gibt es in allen Kulturen und Religionen. Schon im Alten Testament findet sich die These, wonach Schulden alle 50 Jahre gestrichen werden müssen.
Zehn Jahre länger dauert der wohl bekannteste Wirtschaftszyklus, benannt nach Nikolai Kondratieff. Der russische Ökonom wurde ein Opfer des Stalinismus, seine Theorie lebt jedoch weiter. Sie besagt, dass ein neuer Zyklus längst überfällig wäre.
Der Übergang von einem Zyklus zum nächsten ist schwierig und kann im Desaster enden. So endete der Untergang des Römischen Reichs im dunklen Mittelalter, einer Jahrhunderte dauernden Zeit der Barbarei und des Faustrechts.
Vor dem Ersten Weltkrieg zeichnete sich ebenfalls eine Zäsur überdeutlich ab. Der Feudalismus hatte sich überlebt. Die auf Landbesitz basierende Aristokratie konnte ihre Vorherrschaft nicht mehr rechtfertigen, genauso wie die grotesk ungleiche Verteilung des Reichtums.
Wissenschaftlicher Fortschritt, bürgerliches Arbeitsethos und Industrie hatten eigentlich die Voraussetzungen geschaffen für den Aufstieg eines breiten Mittelstandes und eine gerechte Verteilung des Wohlstandes. Stattdessen entwickelte sich ein degenerierter Nationalismus und ein stumpfsinniger Militarismus, der schliesslich im Schrecken des Ersten und dessen Rückspiel, dem Zweiten Weltkrieg, mündete.
Statt sich zu einer aufgeklärten, auf Demokratie und Rechtsstaat basierenden Gesellschaft zu entwickeln, versank Europa im Totalitarismus. Josef Stalin und Adolf Hitler begingen Verbrechen, die noch heute unsere Vorstellung übersteigen.
Die Ansätze einer freien und demokratischen Welt, die sich vor dem Ersten Weltkrieg abzeichneten, wurden blutig niedergeschlagen. (Wer sich übrigens für das Lebensgefühl in Europa in der Belle Epoque interessiert, dem sei Stefans Zweigs wunderbares Buch «Die Welt von gestern» wärmstens empfohlen.)
Die heutige Zeit weist erschreckende Parallelen auf: Unsere Wirtschaft basiert zunehmend nicht mehr auf Wertschöpfung in der realen Wirtschaft, sondern auf Tricksereien in der Finanzwirtschaft. Ein Ende ist absehbar, irgendwann dämmert es auch dem sprichwörtlichen kleinen Mann, dass die Wirtschaft nur noch dank der Alchemie der Zentralbanken – sprich dank Papiergeld – über Wasser gehalten wird. (Oder wie sonst glaubt ihr, werden jetzt all die gigantischen Rettungsprogramme finanziert?)
Die Klimaerwärmung hat jedem vernünftigen Menschen vor Augen geführt, dass ein Weiter-so in einer ökologischen Katastrophe münden muss. Der französische Ökonom Thomas Piketty hat derweil nachgewiesen, dass die Ungleichheit in den entwickelten Staaten heute ein ähnliches Ausmass erreicht hat wie vor dem Ersten Weltkrieg.
Gleichzeitig hat die Digitalisierung Voraussetzungen für eine neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung geschaffen. Dezentrale Wirtschaft, neue Formen der direkten Demokratie, Kreislaufwirtschaft – all dies ist denkbar und wird teilweise in der Praxis bereits erprobt.
Ist das Coronavirus der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt? Löst es das aus, was in der Fachwelt als Paradigmenwechsel bezeichnet wird? Ist es der Anfang zum Wechsel in eine neue Gesellschaftsordnung? Möglich geworden ist es. Schon die kurze Zeit, in der die Pandemie wütet, hat unser Leben auf den Kopf gestellt.
Sollte der Spuk in ein paar Wochen vorbei sein, dann werden wir wohl bald wieder zu dem zurückkehren, was wir bisher als normal empfunden haben. Die Wirtschaft wird wieder anspringen, die Gesellschaft in den gewohnten Alltagstrott zurückfallen. Was bleibt, sind ein paar Anekdoten für unsere Enkel.
Was aber, wenn sich die düsteren Prognosen bewahrheiten? Wenn das Bruttoinlandprodukt zweistellig einbricht und analog die Arbeitslosenzahlen ebenso zweistellig in die Höhe schiessen? Wenn die Weltwirtschaft in eine lange Depression abgleitet? Für diesen Fall zeichnen sich zwei Szenarien ab, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
Heute schon malt der einflussreiche schwedische Unternehmer Jacob Wallenberg in der «Financial Times» ein düsteres Bild:
Im Brennpunkt der Weltöffentlichkeit stehen derzeit die USA. Das nach wie vor reichste Land der Welt tut sich schwer mit der Bewältigung der Corona-Krise. Es hat mittlerweile die meisten Infizierten, obwohl der Höhepunkt der Epidemie erst in zwei Wochen erwartet wird.
In den USA hat es mehr Waffen als Menschen. Gleichzeitig stehen sich Demokraten und Republikaner nicht mehr in einem politischen Wettstreit gegenüber. Es herrscht ein Kulturkrieg zwischen den beiden. Viel braucht es nicht, dass zivile Unruhen im grossen Stil wie Ende der Sechzigerjahre ausbrechen. Pessimisten halten gar einen neuen Bürgerkrieg für nicht ausgeschlossen.
Soziale Unruhen im grossen Stil könnten dazu führen, dass der Präsident die Nationalgarde auffahren lässt – Militäreinheiten, die für die Sicherheit im Inneren zuständig sind – und die demokratischen Rechte ausser Kraft setzt.
Wer würde Donald Trump dies nicht zutrauen? Seine Bewunderung für Wladimir Putin und dessen «gelenkte Demokratie» ist bekannt, und was Viktor Orban in Ungarn und Benjamin Netanjahu in Israel recht ist, ist Trump alleweil billig.
Die USA sehen sich als Mutter und als Hüterin der Demokratie. Doch gerade die Demokratie hat in Zeiten des Coronavirus keine gute Presse. China hat es zwar versäumt, die Epidemie frühzeitig zu unterdrücken. In der Bekämpfung hingegen war Peking erstklassig.
Das gilt auch für die Kommunikation: Während Präsident Xi Jinping sich zurückzog, solange der Verlauf von Covid-19 unklar war, hält der US-Präsident täglich eine chaotische Pressekonferenz ab und macht dabei Aussagen, die von seinen Experten umgehend korrigiert werden müssen. (Wie lange wird sich wohl Anthony Fauci noch im Amt halten können?)
Während Peking die Epidemie mit klaren Vorgaben inzwischen offenbar mehr oder weniger unter Kontrolle hat, fehlen den Gouverneuren der 50 US-Bundesstaaten Richtlinien aus Washington. Das Resultat ist ein chaotisches Flickwerk von sich teils widersprechenden Massnahmen.
Auch die Marktwirtschaft versagt. Während China bereits tonnenweise Masken, Schutzanzüge und Ventilatoren nach Italien und in den Balkan fliegen lässt, streiten sich in den USA die Gouverneure um viel zu knappe und falsch verteilte medizinische Ressourcen. Wegen anfänglicher Fehler sind immer noch viel zu wenig Menschen getestet. In den privaten gewinnorientierten Krankenhäusern fehlen derweil die dringend benötigten Intensivbetten.
Nicht viel besser ist die Lage in Europa. Um die Wirtschaft über Wasser zu halten, haben zwar die meisten Staaten inzwischen massive Hilfspakete geschnürt. Doch der Elefant im Wohnzimmer bleibt bisher unangetastet: Was geschieht mit dem Euro und der EU?
Italien, möglicherweise auch Spanien, werden sich nicht alleine aus dem Sumpf ziehen können – und beide sind nicht Griechenland. Es wird europäische Solidarität brauchen. Werden jedoch die Nordstaaten – vor allem Deutschland – mitziehen, wenn es darum geht, die dafür benötigten Instrumente wie etwa Eurobonds einzuführen? Erste Signale aus Berlin sind wenig ermutigend.
Die grösste Bedrohung für das Nach-Corona-Zeitalter ist die Entstehung eines Überwachungsstaates. Um den Verlauf der Epidemie verfolgen zu können, sind vor allem in Asien spezielle Apps eingesetzt worden. Nicht nur in China, auch in Hongkong und Singapur hat man damit grossen Erfolg gehabt.
Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis diese Apps auch bei uns zum Zug kommen. Deshalb warnt der «Economist» bereits jetzt:
Fassen wir zusammen: Im Mad-Max-Szenario fällt die Weltwirtschaft zunächst in eine tiefe und lang andauernde Depression. Die Folgen sind soziale Unruhen, die bürgerkriegsähnliche Ausmasse annehmen können. Mit der Zeit werden diese Unruhen von den Ordnungskräften und dem Militär niedergeschlagen. Die Demokratie wird ausser Kraft gesetzt. Ein autoritäres Regime übernimmt die Macht und setzt die Errungenschaften der Digitalisierung dazu ein, einen Überwachungsstaat zu errichten.
Zum Glück ist der Weg in einen autoritären nationalistischen Überwachungsstaat keineswegs alternativlos. Ebenso denkbar ist ein Avatar-Szenario; eine Welt, die friedlicher, ökologischer und entspannter wird. Und das geht so:
Erste Lehren aus den Fehlern der Finanzkrise sind bereits gezogen worden. Niemand, nicht einmal die Deutschen, schreien nach einer Austeritätspolitik und mehr Markt. Philip Stephens stellt in der «Financial Times» fest:
Um auf den Pfad hin zu einem Avatar-Szenario einzuschwenken, müssen die beiden zentralen Probleme des digitalen Zeitalters frontal angegangen werden: Umwelt und Ungerechtigkeit.
Konkret bedeutet dies, dass die Hilfspakete, die der Überbrückung der Krise dienen, übergehen müssen in langfristige Aufbauprogramme für eine ökologische Gesellschaft.
Das Geld der Notenbanken wird dann wieder in die reale Wirtschaft fliessen. Es schafft beim Aufbau einer nachhaltigen Gesellschaft die Arbeitsplätze, welche die Krise vernichtet hat, und dient nicht mehr primär dazu, ein völlig überzüchtetes Finanzsystem am Leben zu erhalten.
Ein Green New Deal allein reicht jedoch nicht. Die Coronakrise zeigt auch schonungslos die Schwächen der Hyperglobalisierung der Weltwirtschaft auf. Nicht nur Schweizer erkennen jetzt mit Schrecken, dass ein guter Teil der vor allem billigen Medikamente in China hergestellt werden und eventuell im Notfall gar nicht zur Verfügung stehen.
Die weltweiten Versorgungsketten werden daher einer gründlichen Überprüfung unterzogen werden, und es ist denkbar, ja wahrscheinlich, dass Vieles, das nach Asien ausgelagert worden ist, wieder nach Hause zurückgeholt wird.
Die globalen Supply Chains werden somit zumindest teilweise durch dezentrale und regionale Versorgungsketten ersetzt. Das nimmt Tempo und Stress aus dem System. Roboter und intelligente Software werden zusätzlich dafür sorgen, dass unsere Arbeitszeit allmählich verkürzt wird und Bullshit-Jobs verschwinden. Weil immer mehr Unternehmen dabei auf die Kreislaufwirtschaft umsteigen, profitiert auch die Umwelt.
Wird das auch zu Wohlstandseinbussen führen? Wahrscheinlich. Führt man sich jedoch vor Augen, dass heute überall im Westen psychische Erkrankungen, Fettsucht, Burnouts und Selbstmorde auf dem Vormarsch sind, dann scheint folgender Tradeoff durchaus attraktiv: Wir tauschen eine in jeder Hinsicht überhitzte und gestresste Gesellschaft ein gegen eine Gesellschaft, die entspannter und zufriedener sein wird.
Jänu, jedem das Seine gäll, meines ist es jedoch nicht.