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Kommentar

Warum faule Akademiker das neue Feindbild sind

Faule Akademiker
Bild: watson/shutterstock
Kommentar

Warum faule Akademiker das neue Feindbild sind

Immer mehr Erwerbstätige wollen weniger arbeiten – vor allem «Studierte».
03.03.2023, 14:2103.03.2023, 18:17
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Kürzlich hat sich die NZZ in einem Leitartikel über das Wochenende darüber beklagt, dass die Schweiz zu einer «Dolce-Vita-Gesellschaft» werde. Besonders die jungen Akademiker bekamen dabei ihr Fett ab. Hören wir kurz rein:

«Für die Gesellschaft ist diese Entwicklung allerdings kein Gewinn, denn sie unterläuft Arbeitsethos und Leistungswillen. Besonders schräg wird es, wenn sich die Gutgebildeten, die Hochqualifizierten, die Akademiker für den Dolce-Vita-Lifestyle entscheiden. Früher ging man davon aus, dass Hochschulabsolventen nach ihrer langen Ausbildung und dem späten Berufseintritt Vollzeit arbeiten und ihren Beitrag über Steuern und Sozialabgaben der Allgemeinheit zurückerstatten – heute ist es gut möglich, dass sie zum Teil auf die Kosten der anderen ihr Leben führen.»

Das Akademiker-Bashing ist derzeit hoch im Kurs, besonders wenn besagte Akademiker in der Stadt – speziell in Zürich – wohnen und ganz besonders wenn sie ihren Abschluss nicht in einem naturwissenschaftlichen Gebiet gemacht haben, sondern in Geschichte, Germanistik oder – Gott bewahre – in Ethnologie oder Publizistik.

Ganz schlimm ist es, wenn sie zudem aus begütertem Elternhaus stammen und an bevorzugter Lage eine Eigentumswohnung oder gar ein Haus geerbt und Kinder gekriegt haben. Um ihre Work-Life-Balance aufrechtzuerhalten, arbeiten sie dann nur 80 oder gar nur 60 Prozent und kümmern sich um ihren Nachwuchs.

Der Staat, so klagt die NZZ, unterstütze diesen Schlendrian gar noch:

«Wer weniger arbeitet, zahlt überproportional weniger Steuern und wird auch bei den Sozialabgaben geschont. Zudem kann man als Teilzeitarbeiter schnell einmal von den Segnungen des Wohlfahrtsstaates profitieren, wird bei den Krankenkassenprämien entlastet, hat die Chance auf eine subventionierte Wohnung und erhält dereinst im Alter noch Ergänzungsleistungen, da man sich als Geringverdiener ja keine anständige Rente ansparen kann.»

Blenden wir ein gutes halbes Jahrhundert zurück. Die Schweizer waren lange stolz auf ihre Arbeitsmoral. Ich beispielsweise bin in den Sechzigerjahren in Schwanden (GL) aufgewachsen und habe erlebt, wie die Therma-Arbeiter kurz vor sieben Uhr in der Früh an unserem Haus vorbeimarschiert sind. Auch samstags wurde bis 11 Uhr gearbeitet. Das unterscheide uns vom Ausland, wurden wir damals belehrt, und darin liege der wahre Grund für unseren Wohlstand.

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 VW Werk, 1962. VW Bus Fertigung in Hannover. Montagehalle
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VW-Fabrik im Jahr 1962.Bild: UNITED ARCHIVES

Dank des technologischen Fortschritts erhöhte sich die Produktivität der Wirtschaft in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts rasant. Das spiegelte sich zunächst in höheren Löhnen und später in einer verkürzten Arbeitszeit nieder. Die 42-Stunden-Woche wurde die Norm. Obwohl die Wirtschaft weiter produktiver wurde, gerieten Lohnzuwächse und vor allem kürzere Arbeitszeiten ins Stocken. Im Zeitalter des Shareholder-Values profitierten vor allem die Aktionäre vom steigenden Wohlstand.

Das muss nicht so sein. Die Skandinavier beispielsweise arbeiten bloss 37 Stunden die Woche. Der Urlaub für Mütter und Väter kann bis zu 16 Monate betragen. Trotzdem haben die Dänen und die Finnen einen mit uns vergleichbaren Wohlstand – aber sie leben besser. Regelmässig werden sie zu den glücklichsten Menschen dieser Erde erkoren.

Unsere «Arbeitswut» stammt noch aus einer Zeit, in der Mangel herrschte. Im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach mussten auch wir den Gürtel enger schnallen, um über die Runden zu kommen. Lange Arbeitszeiten und hohe Sparmoral machten damals Sinn. In der postindustriellen Gesellschaft ist die Wirtschaft jedoch unglaublich leistungsfähig geworden. Nicht mehr Mangel, sondern Überfluss ist das Problem – und natürlich die gerechte Verteilung davon. Würden wir die Arbeit sinnvoll aufteilen, dann könnten wir heute unseren Wohlstand locker mit einer 25-Stunden-Woche aufrechterhalten.

Visitors gather near a statue at a concept shop for Chinese electric car maker Jidu in Beijing, Tuesday, Feb. 14, 2023. Chinese tech company Baidu's electric car firm Jidu on Tuesday unveiled a & ...
Chinesischer Roboter mit künstlicher Intelligenz.Bild: keystone

Dank künstlicher Intelligenz wird unsere Wirtschaft noch produktiver werden. Wir leben daher in einer widersprüchlichen Arbeitswelt: Einerseits schimpfen wir über die vermeintlich faulen Akademiker und andere Schmarotzer. Andererseits fürchten wir uns davor, dass uns bald Roboter und intelligente Software den Job rauben.

Die Pandemie hat die Frage der Arbeitszeit wieder aufs Tapet gebracht. Homeoffice und Zwangsarbeitslosigkeit haben dazu geführt, dass glücklicherweise wieder neue Modelle diskutiert werden. Gleichzeitig erkennen immer mehr Menschen, dass eine 80-Stunden-Woche, die in einem Burnout mündet, nicht zwingend der Weisheit letzter Schluss sein muss. Selbst die Banken ermuntern ihre Mitarbeiter neuerdings, auf ihre Worke-Life-Balance zu achten. Der 100-Stunden-Manager hat definitiv an Glanz und Prestige eingebüsst.

Gleichzeitig ist der Trend zur Teilzeitarbeit in allen reichen Gesellschaften zu beobachten. So meldet das US-Arbeitsministerium, dass sich die Anzahl der Teilzeitarbeiter im vergangenen Dezember und Januar um 857’000 erhöht hat. Unternehmen, die mit einer 4-Tage-Woche experimentieren, machen beste Erfahrungen. Das «Wall Street Journal» hat kürzlich gemeldet, dass bei der Hälfte der Unternehmen, welche dieses Experiment durchführen, die Produktivität gleich geblieben ist. Kein Wunder, wollen diese Firmen an der 4-Tage-Woche festhalten.

Die «Arbeitswut» unserer Väter hat in der postindustriellen Gesellschaft keinen Platz mehr. Die Millennials haben recht, wenn sie mehr Zeit mit ihren Kindern und ihren Hobbys verbringen wollen. Unser Problem liegt nicht bei den angeblich «faulen» Akademikern. Unser Problem liegt darin, dass wir es zwar geschafft haben, eine unglaublich produktive Wirtschaft zu erschaffen. Aber gleichzeitig sind wir nicht in der Lage, Arbeitsmodelle zu kreieren, die dafür sorgen, dass wir unser Lebensglück nicht auf dem Altar einer überkommenen Arbeitsmoral opfern.

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433 Kommentare
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DichterLenz
03.03.2023 14:55registriert Juni 2017
Hatte den Nzz-Artikel auch gelesen. Da ist wohl jemand neidisch auf Leute die ein Leben neben der Arbeit haben.
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Tokyo
03.03.2023 14:52registriert Juni 2021
die NZZ ist auch nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Ein anderer Artikel jammert, dass alle ins Gymi ziehen.
dabei haben wir z.B. im Kanton Zürich eine Maturitätsquote von 19.1%. Wie man da auf alle kommt, weiss auch nur die NZZ
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nichtMc
03.03.2023 17:50registriert Juli 2019
Ich habe ein anderes Problem, ich habe mit Geburt meines Kindes mein Pensum auf 80% reduziert und erhalte nun auch 80% des vorherigen Lohns.
Tatsächlich schaffe ich aber praktisch dasselbe Pensum wie vorher, mir fehlt bloss die Zeit für unproduktive Tätigkeiten, wie z.Bsp. Teamtratsch.
Also eigentlich bekommt mein Arbeitgeber mehr für weniger und ich im Vergleich zu unproduktiveren Kollegen deutlich weniger…
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