Die Puzzle-Teile fügen sich zu einem Gesamtbild, das nur einen Schluss zulässt: In Europa eskaliert gerade die Pflegekrise - und die Schweiz wird voll davon erfasst. «Neu sind die Probleme nicht, sie haben sich abgezeichnet», sagt Christina Schumacher vom Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK), «aber jetzt fliegt das System gerade an verschiedenen Orten gleichzeitig in die Luft. Die Versorgungssicherheit steht europaweit auf der Kippe.»
Am 15. Dezember legen in Grossbritannien rund 100'000 Pflegefachleute für 24 Stunden die Arbeit nieder, erstmals in der über 100-jährigen Geschichte ihrer Gewerkschaft. Als Gründe nennen die Streikenden die tiefen Löhne, die massenhafte Abwanderung aus dem Beruf und die Überforderung, die sich aus dem Personalnotstand ergebe.
«Die Betten stauen sich auf den Gängen», wird aus Deutschlands Kinderkliniken berichtet. «Es gibt einfach nicht genug Personal, um alle zu versorgen», sagt eine Chefärztin zur «Zeit Online». Währenddessen stehen auch in München die Klinikchefs vor einer «Mammutaufgabe», schreibt die «Süddeutsche»: «Wir müssen uns davon verabschieden, dass wir in den nächsten Jahren genügend Pflegefachkräfte haben werden», sagt ein Spitalmanager. Schon jetzt seien mangels Personal an der München-Klinik 500 von 2600 Betten gesperrt.
Aus Wien berichtet der «Standard» vor Heiligabend: Die Bandscheibe sollte man sich während der Feiertage nicht verletzen, «67 Tage dauert es bis zur OP im Allgemeinen Krankenhaus Wien». Es häuften sich «Meldungen über Wartezeiten, fehlendes Personal und gesperrte Betten».
Von gesperrten Betten redet schon Ende November auch der französische Botschafter in Bern, Frédéric Journès: «Heute schliesst Hochsavoyen ganze Bettenabteilungen, weil in unseren Spitälern und Pflegeheimen Fachkräfte fehlen», sagt er den Tamedia-Zeitungen.
Den Grund dafür findet er in der Schweiz: «In Hochsavoyen haben wir 16 Pflegekräfte pro 1000 Einwohnerinnen und Einwohner, aber nur 8 arbeiten in Frankreich. Die andern 8 arbeiten in der Schweiz.» Der höheren Löhne ennet der Grenze wegen. Der Botschafter will das nicht akzeptieren: «Wenn es um die Gesundheit von Hunderttausenden Franzosen geht, können wir nicht tatenlos zusehen.»
Es ist eine Kampfansage, die bei Schweizer Spitalverantwortlichen für Beunruhigung sorgen dürfte. Denn auch hier ist die Pflegekrise längst angekommen - gerade verschärfen sich die Probleme wieder dramatisch.
Im November mussten kranke Kinder in Kinderkliniken in andere Kantone gebracht werden, weil das eigene Spital überlastet war: Eine besonders starke Welle mit dem RS-Virus, das zu Atemnot führen kann, in Kombination mit chronischem Personalmangel und Unterfinanzierung der Leistungen führte mancherorts zur Überforderung des Systems.
Die erste starke Grippewelle seit drei Jahren und nach wie vor zirkulierende Coronaviren führten aber auch bei Erwachsenen zu zahlreichen Spitaleinweisungen. Die Ansteckungswellen rollen über Spitäler, die nach zwei Jahren Pandemie ohnehin über dem Limit laufen.
Was das heisst, zeigt sich an der Zahl der gesperrten Betten. Sie stehen nicht leer, weil es an Patienten fehlt. Vielmehr können sie nicht belegt werden, weil es an Pflegepersonal oder Ärztinnen und Ärzten mangelt. Es ist eine Grösse, über die Spitäler ungern Angaben machen - doch nun tauchen vereinzelt Zahlen in Artikeln auf.
So schrieb kürzlich das «Bieler Tagblatt», die Berner Insel-Gruppe habe dieses Jahr zeitweise 150 ihrer insgesamt 1500 Betten schliessen müssen. Der Chef der Hirslandengruppe erklärte der «Handelszeitung», 200 der 3200 Spitalbetten seien geschlossen. Ein Sprecher des Kantonsspitals St.Gallen sagte am Dienstag im «Blick»: «Wenn alle Stellen besetzt wären, könnten wir 60 bis 80 mehr Betten in Betrieb nehmen.» Ähnliche Berichte gibt es aus der Westschweiz. Auch manche Operationssäle stehen ausser Betrieb.
Exakte Zahlen sind nicht verfügbar. Die Statistik der zertifizierten Betten in den Intensivstationen, die der Bund veröffentlicht, legt nahe, dass über das Jahr gesehen gegen zehn Prozent der zertifizierten Betten nicht betrieben werden können. Diese Grössenordnung dürfte angesichts der verfügbaren Zahlen auch für die normalen Spitalbetten ungefähr zutreffen.
Allerdings schwanken die Zahlen stark: Wenn sich etwa - wie gerade in diesen Tagen - während der Grippewelle viele Spitalangestellte selber infizieren, müssen vorübergehend noch mehr Betten gesperrt werden.
Es ist ein Teufelskreis, der die verbliebenen Spitalangestellten weiter belastet. «Wir versuchen, mit Unterbestand so viele Betten wie möglich zu betreiben», erzählt eine erfahrene Pflegefachfrau mit Führungsfunktion, «das geht dann aber wieder auf Kosten unserer Gesundheit.» Sie spricht von einem «moralischen Stress», der die Pflegenden enorm belaste.
Zu spüren bekommen den Mangel auch Patientinnen und Patienten. «Müssen wir Betten schliessen, heisst das auch, dass wir regulär geplante Patientinnen und Patienten nicht aufnehmen können», sagt die Pflegefachfrau. «So kann es sein, dass wir einen Patienten am Morgen anrufen müssen, dass sein für den gleichen Tag geplanter Eingriff nicht stattfinden kann.» Und eine Entlastung ist nicht in Sicht: «Auf manche Stellenausschreibung haben wir schlicht keine einzige Bewerbung.»
In der Not werfen die zuständigen Chefs gute Vorsätze über Bord oder genauer: die Grundsätze der Weltgesundheitsorganisation WHO. Deren Mitglieder - auch die Schweiz - haben 2010 einen Verhaltenskodex verabschiedet, über die Rekrutierungspraktiken von Gesundheitspersonal im Ausland. Wichtigstes Ziel: Die Länder, namentlich reiche wie die Schweiz, sollen ihr Gesundheitspersonal selber ausbilden.
Denn der Mangel an Pflegefachleuten ist ein weltweites Problem: «Gemäss Schätzungen fehlen bis 2030 18 Millionen Pflegekräfte zur Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung», schreibt das Bundesamt für Gesundheit zum Kodex. In der Schweiz beläuft sich der zusätzliche Bedarf gemäss offiziellen Schätzungen auf rund 65'000 Pflegefachleute bis 2030.
Für die Vertreterin der Pflegefachleute, Christina Schumacher, ist klar: «Die Schweiz kommt ihren internationalen Verpflichtungen nicht nach.» Sie verweist auf einen Artikel der «Aargauer Zeitung» über ein Pflegecasting in Rom: Weil im Kantonsspital Aarau 86 von 500 Betten gesperrt seien, wollten die Verantwortlichen in Rom neue Mitarbeitende anwerben. «Es ist wie ein Domino: Wir holen die Leute zum Beispiel in Südeuropa, diese Länder rekrutieren dann wiederum in ärmeren Ländern - am Ende fehlt das Pflegepersonal bei den Ärmsten», sagt Schumacher.
Immerhin: Exakt ein Jahr nach dem Ja des Volks zur Pflege-Initiative hat das Parlament Ende November die Gelder für eine Pflegeoffensive bewilligt: Bis zu einer Milliarde Franken sollen Bund und Kantone in den nächsten Jahren in die Ausbildung investieren. Es war dies der unbestrittene Teil der Pflege-Initiative, die erste Etappe. Doch löse dieser nicht das ganze Problem, findet Schumacher: «Über ein Drittel der Pflegefachleute verlässt den Beruf, bevor sie 24-jährig sind», darum brauche es die zweite Etappe.
Doch just bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen harzt die Umsetzung. Gewerkschaften und Pflegeverband machten zwar auch im Jahr nach der Abstimmung weiter Druck: Rund 300 Personen würden pro Monat den Pflegeberuf verlassen, meldeten sie Ende November. Anstatt auf ein neues Gesetz zu warten, fordern sie Sofortmassnahmen wie Lohnerhöhungen, mehr Ferien, Zulagen für kurzfristige Dienstplanänderungen oder Zuschüsse für die Familienbetreuung. Denn die Gewerkschaften wittern eine Verzögerungstaktik des Bundesrats.
Tatsächlich war für diesen Herbst ein erstes Aussprachepapier mit Massnahmen geplant, um die Arbeitsumstände in der Pflege zu verbessern. Erste Eckwerte werden jetzt Ende Januar erwartet.
Dass die Umsetzung dieses zweiten Teils der Pflege-Initiative schwierig werden würde, davor warnte der Bundesrat schon vor der Abstimmung. Etwa ein Mindestlohn, der je nach Region adaptiert werden müsste. Auch der Betreuungsschlüssel, der bestimmt, wie viele Patienten eine Pflegeperson maximal betreuen kann, ist je nach Station und Spital unterschiedlich.
Das Ziel ist klar: Das Personal entlasten. Dadurch soll der Beruf wieder an Attraktivität gewinnen. Allerdings dauert die Krise weiter an und die Situation verschlechtert sich eher, bis erste Massnahmen greifen.
Vielleicht würde sich dann mal was bewegen.