Die Schweiz durchlebt eine Pensionierungswelle, deren Ausmasse die Ökonomen der Raiffeisenbank kürzlich berechnet haben. In den kommenden zehn Jahren erreicht demnach fast ein Viertel aller heute Erwerbstätiger das Rentenalter, das sind über eine Million Menschen.
Das ist demografisch gesehen eine neue Ära für die Schweiz. Vor 20 Jahren waren es pro Jahr bloss 50'000 Menschen, die den Arbeitsmarkt verliessen. Zurzeit sind es schon jetzt um die 100'000 Menschen und in den kommenden Jahren werden es mehr. Ihren Höhepunkt erreicht diese Pensionierungswelle dann 2029, wenn über 130'000 Menschen austreten.
Das wird den Alltag verändern. Denn die Pensionierungswelle schlägt voll durch; sie wird nicht dadurch aufgefangen, dass zugleich mehr junge Menschen nachrücken würden. Im Gegenteil: Es rücken weniger nach als früher. Und so gehen dem Arbeitsmarkt und der Schweiz unter dem Strich jedes Jahr viele Arbeitskräfte verloren. Laut Raiffeisen werden es in den nächsten fünf Jahren zusammengezählt über 200'000 sein.
Von diesen Abgängen sind jedoch nicht alle Branchen gleich stark betroffen, und die Demografie ist nicht der einzige Faktor, der bestimmt, wie gross der Mangel an Arbeitskräften in einer Branche sein wird. Das hängt auch davon ab, wie sich die Nachfrage nach Arbeitskräften entwickelt. Wenn es zwar weniger von ihnen hat, es aber auch weniger braucht, wird der Mangel weniger schlimm sein und die Kundschaft weniger davon spüren.
Über alle Branchen hinweg liegt der Anteil der über 55 Jahre alten Arbeitskräfte bei 23 Prozent. Das ist schon viel, aber in der Landwirtschaft beläuft sich der Anteil gar auf 40 Prozent. Die Pensionierungswelle ist besonders hoch. Zugleich sinkt jedoch auch die Nachfrage nach Arbeitskräften, vor allem aufgrund von technologischen Fortschritten, was den Mangel wiederum etwas mildert.
Im Gesundheitswesen hingegen wird die Nachfrage nach Arbeitskräften in einer alternden Gesellschaft nur weiter ansteigen und Pflegeroboter oder dergleichen kommen längst noch nicht zum Einsatz. Zugleich ist bei Spezialisten wie Fachärztinnen, Zahnmedizinern und Pflegefachkräften der Anteil der über 55-jährigen Arbeitskräfte mit 23,8 Prozent recht hoch, noch leicht über dem landesweiten Durchschnitt. Es wird schwieriger werden, solche Fachkräfte anwerben zu können.
Im Transportwesen dürfte die Nachfrage nicht ganz so stark wie im Gesundheitswesen steigen, aber doch weiter zunehmen in einer älter werdenden und zugleich wachsenden Bevölkerung. In dieser Branche ist der Anteil der bald in Pension gehenden Babyboomer besonders hoch und weit über dem Landesmittel: bei den Chauffeuren von Taxis sind es 26,5 Prozent, bei den Fahrern von Bussen und Trams sogar 34,9 Prozent.
Was also tun? Die Raiffeisen-Experten wie auch jene des Internationalen Währungsfonds (IWF) haben die verschiedenen Massnahmen beurteilt. Einmal kommt ein eher fatalistisch klingendes Fazit heraus, einmal eine sanft formulierte Kritik an der Schweiz.
Raiffeisen nennt als eine mögliche Massnahme, dass mehr Menschen über das Rentenalter hinaus arbeiten. Doch sei da nicht allzu viel mehr herauszuholen, da ohnehin schon ein hoher Anteil der Bevölkerung einen Job hat. Oder es könnten mehr Kindertagesstätten gegründet werden, damit die Eltern ihre Arbeitspensen erhöhen – das wiederum sei jedoch sehr teuer und bringe wohl auch nicht viel, da die Menschen lieber mehr Freizeit hätten.
Es könnte technische Fortschritte geben, wie Roboter, die Arbeitskräften helfen oder sie ersetzen können – das sei an sich möglich, aber erst in vielen Jahren. Somit bleibe eigentlich nur die Zuwanderung – doch sei diese heute schon rekordhoch und könne die demografische Lücke dennoch nicht schliessen.
Am Ende gelangen die Raiffeisen-Experten zum Fazit, dass es keine Massnahme gibt, die das Problem wirklich beheben kann.
Der Internationale Währungsfonds sieht es nicht völlig, aber doch anders. Denn er erkennt durchaus noch Potenzial, nämlich bei den Frauen. Die Schweiz habe hier aber einen falschen Ansatz verfolgt, kritisiert der IWF.
Der IWF beginnt mit der bekannten Feststellung, dass in der Schweiz zwar sehr viele Frauen arbeiten, aber sehr oft nur Teilzeit. Dies habe zur Folge, dass in der Schweiz zwar der Anteil der erwerbstätigen Frauen der dritthöchste in Europa ist, ihr Einkommen aber - umgerechnet auf Vollzeitstellen - verglichen mit jenem der Männer besonders tief ist.
In der Schweiz wird dies oft als die bestmögliche aller Welten beschrieben. Die Frauen würden halt ihre Arbeitspensen so ansetzen, dass sie gerade noch mit ihrem sonstigen Alltag und dem Wunsch nach Freizeit vereinbar seien, mehr liege nicht drin. Entweder sie arbeiten Teilzeit oder gar nicht. Die weite Verbreitung von Teilzeitarbeit unter Frauen ist in dieser Erzählweise keine Schwäche, sondern eine Stärke.
Der IWF sieht das etwas anders. Er erachtet den hohen Teilzeit-Anteil der Frauen insofern als Missstand, als solche Arbeit nachteilig sei für die betroffenen Frauen: Ihre Karriere und ihre Altersvorsorge leiden darunter.
Gemäss IWF ginge es der Schweiz besser, wenn sie den Vollzeit-Anteil der Frauen erhöhen könnte. Dafür müsse sie jedoch eine Massnahme ergreifen und eine andere sein lassen, da diese nur eine «relativ geringe Wirkung habe.»
Konkret: Die Schweiz sollte die Kinderbetreuung für Haushalte mit tieferen Einkommen gezielt verbilligen. Die Massnahme, die wenig bringe, hat die Schweiz erst 2023 ergriffen: Sie erhöhte damals den Abzug für Kinderbetreuung, den man bei der direkten Bundessteuer geltend machen darf.
Die IWF-Empfehlung erklärt sich mit der grossen Kluft, die es bei der Nutzung von Kinderbetreuung gebe. Von Haushalten mit niedrigem Einkommen besuchen nur 20 Prozent der Kinder im Alter von 0 bis 2 Jahren eine Kindertagesstätte, während es von Haushalten mit höherem Einkommen rund 60 Prozent sind. Das Potenzial ist demnach bei den unteren Einkommen besonders gross. Doch genau da helfen Steuererleichterungen wenig: Denn über 40 Prozent der Haushalte bezahlen ohnehin keine direkte Bundessteuer.
Und was laut IWF noch helfen würde, wäre die Abschaffung der Heiratsstrafe. Denn Ehefrauen würden ihre Pensen nicht erhöhen, wenn vom zusätzlichen gemeinsamen Einkommen durch eine höhere Steuerlast nicht viel übrig bleibt.