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Euro 2024: Deutschland braucht ein neues Sommermärchen

epa11409202 Soccer fans gather in the Marienplatz (Mary's Square) in Munich, Germany, 14 June 2024, before the UEFA EURO 2024 opening match between Germany and Scotland in Munich. EPA/ANNA SZILAG ...
Deutschland-Supporter auf dem Münchner Marienplatz. Für Stimmung am Eröffnungstag aber sorgten vor allem die schottischen Fans.Bild: keystone

Ein «Sommermärchen» für das Schlechte-Laune-Land

Die Fussball-EM in Deutschland steht unter keinem guten Stern. Die Wirtschaft lahmt, die Bahn rumpelt, und eine dysfunktionale Regierung beflügelt linke und rechte Populisten.
14.06.2024, 19:0215.06.2024, 11:37
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Am Freitag feiert Olaf Scholz seinen 66. Geburtstag. Der deutsche Bundeskanzler tut dies ausserhalb des Landes. Er weilt am G7-Gipfel in Apulien und wird danach in die Schweiz reisen, zur Ukraine-Konferenz auf dem Bürgenstock. Das Eröffnungsspiel der Fussball-Europameisterschaft zwischen Deutschland und Schottland wird er verpassen.

Einen freundlichen Empfang hätte Scholz in München kaum bekommen. Die Gefühlslage im Gastgeberland ist getrübt. Dabei könnte Deutschland ein neues Sommermärchen wie bei der WM 2006 gebrauchen. Gefühlt war damals das ganze Land eine Festhütte. Die Stimmung war unbeschreiblich, die Welt staunte über den unverkrampften Patriotismus.

German soccer fans cheer as Germany scores the first goal during the World Cup soccer match Germany against Ecuador as they watch the game on a giant TV screen at the public viewing area in Berlin, Tu ...
Die fröhliche Stimmung an der WM 2006 beeindruckte die ganze Welt.Bild: AP

Der Begriff «Schland» war eine Art Synonym dafür. Heute könnte man ihn als Abkürzung für «Schlechte-Laune-Land» verwenden. Mit Patriotismus verbunden wird nicht die Schwarz-Rot-Gold-Euphorie von 2006, sondern die Alternative für Deutschland (AfD). Führende Exponenten und ihre Wortmeldungen erinnern an die dunkelste Zeit des Landes.

Der Vormarsch der AfD

Olaf Scholz hat die AfD letztes Jahr mehrfach als «Schlechte-Laune-Partei» bezeichnet. Damit hat er sie nach Ansicht von Kritikern eher gestärkt als geschwächt. Bei der Europawahl am letzten Wochenende kam sie bundesweit auf 16 Prozent. Das ist etwa die Hälfte des Wähleranteils von Marine Le Pens Rassemblement National in Frankreich.

Doch selbst der Remigrations-Skandal oder korrupte Funktionäre wie Maximilian Krah, der Spitzenkandidat bei der Europawahl, der sich mehr für chinesische und russische als für deutsche Interessen einsetzte, konnten der AfD nicht ernsthaft schaden. Viele wählten sie erst recht, und auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ist die Lage geradezu dramatisch.

Mehr Sitze als Kandidierende

Die AfD wurde ausserhalb der Hauptstadt Berlin flächendeckend zur stärksten Partei. Eine am Wahlabend veröffentlichte ZDF-Hochrechnung für Ostdeutschland zeigt ein bedenkliches Bild. Die AfD liegt klar vor der CDU, und bereits auf Platz drei folgt das erst kürzlich als Abspaltung von der Linken gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW).

In Ostdeutschland wurde die AfD bei der Europawahl die klar stärkste Partei. Auf Platz drei folgt das BSW.
In Ostdeutschland wurde die AfD bei der Europawahl die klar stärkste Partei. Auf Platz drei folgt das BSW.

Rechte und linke Populisten dominieren die ostdeutsche Parteienlandschaft. Das zeigte sich gleichzeitig auch bei den Kommunalwahlen in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Teilweise kamen AfD und BSW zusammen auf mehr als 50 Prozent. In einigen Städten und Gemeinden holten sie mehr Sitze, als Kandidierende aufgestellt waren.

Keine Mehrheit ohne Populisten

Koalitionen dieser ungleichen Pole sind schwer vorstellbar. Doch es gibt Überschneidungen. AfD und BSW sind migrationskritisch und russlandfreundlich. Das zeigte sich diese Woche, als beide Parteien die Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Bundestag boykottierten. Für die Politik im Osten sind das schlechte Vorzeichen.

Im Herbst finden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen statt. In allen drei Bundesländern liegt die AfD in den Umfragen an der Spitze. In Sachsen träumt sie sogar von der Alleinregierung. Zumindest aber gehen Beobachter davon aus, dass es nach den Wahlen nahezu unmöglich sein wird, eine Regierungsmehrheit ohne Populisten zu bilden.

Verkrachte Ampel

Die AfD mit ihrer klar rechtsextremen Ausrichtung bleibt ein No-Go. Auch mit der linken Reizfigur Sahra Wagenknecht möchte CDU-Chef Friedrich Merz keine Koalitionen eingehen. Prompt gab es Widerspruch aus dem Osten. Der Thüringer CDU-Vorsitzende Mario Voigt erklärte, er höre vom BSW «mehr Vernünftiges als von Linken und Grünen».

Die «Brandmauern» sind in Ostdeutschland mächtig am Bröckeln. Die Hauptschuld für die politische Misere orten viele bei der Ampel-Regierung von SPD, Grünen und FDP in Berlin. Sie wirkt hoffnungslos verkracht und dysfunktional. Kanzler Scholz scheint dem Treiben regungslos zuzuschauen. Neuwahlen wie in Frankreich erteilte er eine klare Absage.

Die «Phantomgrenze»

Ein Bruch der Koalition steht im Raum, doch vermutlich wird sie sich bis zur Bundestagswahl im Herbst 2025 irgendwie «durchseuchen». Dabei ist ihre Bilanz nicht nur schlecht. Doch der Atomausstieg und das verkorkste Heizungsgesetz trüben das Bild, ebenso der erbitterte Streit ums Geld zwischen SPD und Grünen sowie FDP-Finanzminister Christian Lindner.

Die Ampel ist ein Teil des Problems, doch die unterschiedlichen Politlandschaften in West und Ost zeigen auch, wie weit Deutschland 35 Jahre nach dem Mauerfall von einer echten Einheit entfernt ist. Für den renommierten Soziologen Steffen Mau durchzieht eine «Phantomgrenze» das Land, wie er in einem lesenswerten Gastbeitrag im «Spiegel» schreibt.

Ein «Land der kleinen Leute»

«Der Osten wird sich dem Westen nicht weiter anverwandeln, zu stark wirken die Prägungen der DDR, die Weichenstellungen der Wiedervereinigung und die Lasten der Transformationsjahre», argumentiert Mau, der selbst aus Rostock stammt. Der Osten sei zur «Anpassungsgesellschaft» geworden, «ohne die Blaupause West je zu erreichen».

epa11189096 German Chancellor Olaf Scholz chats with volunteers from the 'metro-polis' pro-democracy initiative inside a DVB street tram during his one-day visit to Saxony, in Dresden, Germa ...
Kanzler Scholz in einem Tram in Dresden: In Sachsen träumt die AfD von der Alleinregierung.Bild: keystone

Westdeutschland ist demnach recht mittelschichtig, Ostdeutschland hingegen «eine einfache Arbeitnehmergesellschaft, ja, ein ‹Land der kleinen Leute›». Das Vermögen der Haushalte sei im Westen doppelt so hoch. Zudem leidet der Osten gemäss Mau unter einer dramatischen Elitenschwäche – «nur wenige steigen in die Führungsriege des Landes auf».

Strukturelle Defizite

Hinzu kommt die Demografie: Der Osten schrumpft, der Westen wächst. Deutschland ist seit der Wiedervereinigung kaum zusammengewachsen. Vielmehr scheint das Land sich zu entfremden. «Ostdeutschland ist kein Katalonien 2.0, das Bekenntnis zur deutschen Einheit ist ungebrochen», relativiert Soziologe Mau. Doch Grund zur Sorge besteht allemal.

Verschärft wird das Problem durch die lahme Wirtschaft. Deutschland wurde von der Lokomotive Europas zum Schlusslicht. Nur langsam erholt es sich von der Corona- und der Energiekrise. Die Rezession wurde überwunden, doch die strukturellen Defizite bleiben gross, von einem Rückgang der Arbeitsproduktivität bis zum Fachkräftemangel.

Längst nicht alles läuft schlecht

Umso irritierender wirkt, dass Union, FDP und Wirtschaftsvertreter am Verbrennungsmotor festhalten wollen, während China gleichzeitig die Weltmärkte mit billigen Elektroautos flutet. Man fühlt sich direkt in der Klischeefalle gefangen: Hier das verkalkte Europa, das sich an veraltete Strukturen klammert, dort das dynamische China.

Die strukturellen Probleme Deutschlands beschränken sich nicht auf die Wirtschaft. Die Digitalisierung wurde unter Langzeit-Kanzlerin Angela Merkel verbummelt und die Infrastruktur vernachlässigt. Das betrifft nicht nur, aber speziell die Deutsche Bahn. Die Fahrt mit ihr ist Glückssache. Sie kann reibungslos verlaufen oder zum Albtraum werden.

Längst nicht alles läuft schlecht. Man darf Deutschland nie unterschätzen, im Guten wie im Schlechten. Und wer weiss, wenn das Wetter auf Sonne und Wärme umschaltet und die Nationalelf von Julian Nagelsmann gross aufspielt, wird es vielleicht etwas mit einer Neuauflage des Sommermärchens. Olaf Scholz’ Schlechte-Laune-Land könnte es brauchen.

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28 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Tsherish De Love aka Flachzange
14.06.2024 20:48registriert September 2020
Das Sommermärchen war einmalig genial. Alles passte. Die Euphorie der Deutschen, das Wetter, das billige Bier, die allgemeine Lage, die Welt war zu Gast bei Freunden.

Zigtausend Schweizer Fans in S, Do und H. Bei uns eine Euphorie von der Barrage, dem Startspiel gegen Frankreich, der Sieg gegen Togo vor über 50k Dans in rot, Senderos ikonisch mit blutender Stirn….bis zum Moment wo Köbi 2min vor Schluss Frei auswechselte. Zubi hält gegen Sheva… was danach kam hab ich mittlerweile ausgeblendet.

Für mich waren die Tage an der WM in Deutschland etwas vom allerbesten was ich erleben durfte!
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plus:minus
14.06.2024 19:43registriert Juni 2022
Im einem Land, in welchem sich den Problemen nicht stellt sondern sie jahrelang aussitzt (BK Merkel) oder aktuell ganz einfach vergisst (BK Scholz) oder nicht benennt (Medien), steigt irgendwann mal die Gleichgültigkeit. Und da hat der Fisch wiedermal vom Kopf begonnen zu stinken.

Sich jetzt darüber wundern, dass die Bevölkerung keine Lust mehr auf Politik, Arbeit oder Gesellschaft hat, ist dann doch etwas sehr Elfenbeinturm.

Diesen selbst herbeigeführten Umstand wieder umzukehren wird je länger je mehr zur unstemmbaren Aufgabe. Die EU-Wahlen waren nur ein Vorgeschmack.
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Demetria
14.06.2024 22:58registriert März 2020
Na, Deutschland ist einfach auf dem Weg dahin, wo England und die USA schon lange sind.

Wenn man Neoliberalismus zur Staatsdoktrin erhebt und dabei noch spart, bis nicht mal mehr die Bahn, die Autobahnrücken oder die Hochwasserdämme halten, dann sieht man den Zerfall.

Wird uns auch noch blühen, wenn wir so weiter machen mit Schuldenbremse und tiefen Steuern. Wegen der Wohnungsnot schnellen die Obdachlosenzahlen hoch und auch die untere Mittelschicht wird kaum noch etwas Neues finden, weil die Mieten schneller steigen als die Löhne.
Das wird noch in Tränen enden, wenn es so weiter geht.
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