Welches ist der grösste Stressfaktor im Leben der Schweizerinnen und Schweizer? Geld. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Umfrage, bei der über 1000 Personen in der Schweiz befragt wurden. Uns stresst also das am meisten, das wir – verglichen mit anderen Ländern – im Überfluss besitzen. Warum? Wenn es nicht Wohlstand ist, der uns zufrieden und glücklich macht, was dann? Ein Glücksforscher liefert Antworten.
Herr Binswanger, macht Geld glücklich?
Mathias Binswanger: Diese Frage lässt sich pauschal nicht beantworten. Wenn man fragt, ob Menschen mit allgemein steigenden Einkommen im Durchschnitt zufriedener oder glücklicher werden, dann ist die Antwort: Nein. In diesem Sinne macht Geld nicht glücklich. Wenn man aber ärmere und reichere Haushalte in der Schweiz miteinander vergleicht, sieht man, dass die Menschen in den reicheren Haushalten glücklicher sind.
Was bedeutet das?
Das heisst, wenn ich als Einzelner reicher werde als andere, hat das ein gewisses Glückspotenzial. Wenn aber eine Gesellschaft als Ganzes reicher wird, dann führt das nicht zu mehr Glück. Ich werde dann zwar absolut reicher, aber im Vergleich zu anderen schneide ich nicht besser ab.
Die Schweiz gehört zu den wohlhabendsten Ländern der Welt und doch ist Geld der grösste Stressfaktor der Schweizerinnen und Schweizer. Warum?
Das Gefühl, ob man genug Geld hat oder nicht, ist in erster Linie eine Frage des Charakters. Man kann eine Million Franken besitzen und immer noch das Gefühl haben, es reiche noch nicht. Das heisst, es gibt Menschen, die fühlen sich nie sicher und andere fühlen sich schon mit wenig sicher. Der grosse Stress beim Geld ist, was man damit machen soll oder wie man es richtig investiert. Wir geraten in eine Multioptions-Tretmühle.
Es geht also um Entscheidungsschwierigkeiten?
Genau, wir haben viel zu viel Auswahl, aber keine vernünftigen Kriterien, anhand derer wir entscheiden können. Wir müssen ja nicht nur das Geld richtig anlegen, sondern auch andere Entscheide treffen. Wir brauchen den optimalen Mobilfunkanbieter, das optimale Versicherungsmodell, wir müssen optimal einkaufen, ein optimales Familienleben führen. Zuletzt fehlt uns die Zeit, alles im Leben zu optimieren. Und das stresst uns.
Und die Schweizerinnen und Schweizer wissen also nicht, wie sie ihr Geld optimal verwalten sollen?
Es kommt auf die Einkommenssituation an. Es gibt auf der Welt viele Menschen, für die ist das Nicht-Vorhandensein des Geldes der Stressfaktor. In der Schweiz gibt es aber zunehmend mehr Menschen, die wegen des Geldes gestresst sind, weil sie nicht wissen, wie sie es anlegen sollen. Es gibt hierzulande einen relativ breiten Mittelstand mit relativ viel Vermögen.
Stimmt der Grundsatz «Je mehr Wohlstand, desto mehr Zufriedenheit» gar nicht?
Zumindest nicht in hochentwickelten Ländern. Wenn man nach Japan, in die USA, nach Deutschland oder hier in der Schweiz schaut, dann ist es so, dass Menschen im Durchschnitt mit grösserem materiellem Wohlstand nicht zufriedener werden.
Warum?
Nicht einmal in der Ökonomie geht es um ein maximales Einkommen. Letztlich geht es um das Wohlbefinden der einzelnen Menschen. Ein hohes Einkommen ist dazu nur eine erste Stufe. In einem zweiten Schritt muss das Einkommen in Tätigkeiten umgesetzt werden, die tatsächlich glücklich machen. Dafür braucht es andere Faktoren, wie beispielsweise Zeit.
Ohne Zeit macht Geld also nicht glücklich.
Es geht darum, den optimalen Mix zu finden. Es gibt Menschen, die sind unglücklich, weil sie zwar viel Zeit, aber kein Geld haben. Umgekehrt haben andere viel Geld, aber keine Zeit. Wir brauchen ein gewisses Einkommen. Aber wir brauchen auch Zeit, für Dinge, die wir gerne tun. Und dem steht manchmal ein höheres Einkommen im Weg. Das Sozialleben zum Beispiel wird nicht besser mit einem höheren Einkommen. Und das Sozialleben ist ein sehr wichtiger Faktor für das Wohlbefinden von Menschen.
Was ist denn die Formel für Glück?
Eine Formel gibt es leider nicht. Glücksforscher gehen allerdings davon aus, dass Glück zwei Komponenten hat. Zum einen ist das eine längerfristige Lebenszufriedenheit. Zum anderen das kurzfristige emotionale Wohlbefinden. Das schwankt je nach Tag, je nach Situation. Ein glückliches Leben besteht darin, zufrieden zu sein, viele Glücksmomente erleben zu dürfen und wenig Unglücksmomente. Wenn ich es schaffe, im Alltag viele kleine Glücksmomente zu haben und Unglücksmomente zu vermeiden, ist das ein wesentlicher Schritt für ein glückliches Leben.
Gelingt Ihnen das? Sind Sie glücklich?
Als Glücksforscher bin ich dazu verpflichtet, glücklich zu sein. Ich muss schliesslich mit gutem Beispiel vorangehen.
Und wie machen Sie das?
Es gibt ein paar Grundsätze, nach denen ich lebe. Beispielsweise hat man herausgefunden, dass lange Pendelzeiten einen Unglücksfaktor darstellen. Die Zeit, in der man vom Wohnort an den Arbeitsort unterwegs ist, ist jene Zeit, in der die Menschen während eines Tages am unzufriedensten sind. Ich habe das Pendeln fast völlig eliminiert. Ich wohne unmittelbar neben der Fachhochschule, wo ich unterrichte.
Was noch?
Ich habe vor 20 Jahren aufgehört, Fernsehen zu schauen. Und das ist einer der besten Entscheide, die ich in meinem Leben je getroffen habe. Kurzfristig ist Fernsehen für das Glück sehr verführerisch. Aber längerfristig raubt es einem wahnsinnig viel Zeit und auch Kreativität. Heute ist es nicht mehr nur das Fernsehen, sondern die Zeit, die man im Netz verbringt. Da sollte man sich Grenzen setzen, weil es sonst überhandnimmt. Man verwendet dann zu wenig Zeit für Dinge, die für das Glück viel wichtiger sind.
Der Kapitalismus ist auf Wirtschaftswachstum ausgerichtet. Was bedeutet es für unsere Zukunft, wenn wir mit dem Wachstum gar nicht glücklicher werden?
In der kapitalistischen Wirtschaft, die immer weiter wachsen muss, steckt ein gewisses Dilemma drin. Auf der einen Seite wird innerhalb dieses Systems ein immer höherer Wohlstand angestrebt. Das war ursprünglich auch einmal positiv. Wenn wir vergleichen, wie wir vor 100 Jahren gelebt haben, dann geht es einer Mehrheit der Menschen heute objektiv besser. Auf der anderen Seite haben wir jetzt ein Niveau erreicht, wo wir feststellen, dass noch mehr materieller Wohlstand nicht mehr glücklicher macht.
Worin liegt die Schwierigkeit?
Dass wir mit dem Wachstum nicht mehr aufhören können. Es sind nicht mehr die Menschen, die das System antreiben, sondern das System treibt uns an. Wachstum wird uns nicht als etwas dargestellt, das uns ein besseres Leben ermöglicht, sondern als Zwang. Wir müssen immer weiter wachsen, damit wir nicht hinter anderen Ländern zurückfallen. Wir müssen wachsen, damit wir als Innovationsstandort attraktiv bleiben, damit die Arbeitsplätze hier bleiben et cetera.
Was raten Sie?
Den Wachstumsmechanismus zu mildern. Es muss nicht immer das maximale Wachstum angestrebt werden. Es braucht eben auch Platz für Glück, Gesundheit, Zufriedenheit. Besser wäre ein moderates Wachstum, bei dem auch weniger grosse Risiken eingegangen werden müssen.