Vor rund 10'000 Jahren begannen einige Menschen im Nahen Osten, ihre Lebensweise als umherziehende Jäger und Sammler allmählich zu verändern. Im Zuge der neolithischen Revolution gingen sie zunächst zu Viehzucht und dann zum Ackerbau über. Und sie begannen, Siedlungen anzulegen.
Eine der ältesten bekannten Siedlungen ist Çatalhöyük in der heutigen Türkei. Die Siedlung entstand vor etwa 9500 Jahren im südlichen Anatolien und erlebte ihre Blütezeit rund 1000 Jahre später, von etwa 6700 bis 6500 v. Chr. Damals drängten sich auf einer Fläche von rund 13 Hektar – das entspricht einem Quadrat von 360 Meter Seitenlänge – zeitweise bis zu 3500 Menschen mit Tieren in der Steinzeit-Stadt. Manche Forscher gehen sogar von 8000 Bewohnern aus. Später ging die Bevölkerung stark zurück und um 5950 v. Chr. wurde die Siedlung aufgegeben.
Çatalhöyük bestand aus hunderten von eng aneinandergesetzten Lehmziegel- oder Stampflehmhäusern. Zwischen diesen Bauten gab es keine Strassen oder Gassen; die Bewohner gelangten über Leitern und Öffnungen in den Flachdächern – die zugleich als Rauchabzug dienten – in ihre Häuser. Die für diese Frühzeit hohe Bevölkerungsdichte verdankte sich vermutlich der günstigen Lage der Siedlung. Hier gab es Gewässer in der Nähe, während die Konya-Ebene ansonsten eher niederschlagsarm ist. Das Nahrungsangebot in der Umgebung dürfte gut gewesen sein.
Die Menschen lebten hauptsächlich vom Ackerbau; sie ernährten sich vornehmlich von Weizen, Gerste und Roggen sowie Wildpflanzen, wie Isotopenanalysen zeigen. Zusätzlich ergänzten Schafe, Ziegen und Wild den Speisezettel, später in geringerem Masse auch domestizierte Rinder.
Doch diese Art der Ernährung und das Zusammenleben auf engem Raum brachten Probleme mit sich, wie ein Team von Archäologen um Clark Spencer Larsen von der Ohio State University nach jahrelangen Ausgrabungen feststellte, bei der die Überreste von 742 Bewohnern untersucht wurden. «Çatalhöyük war eine der allerersten proto-urbanen Gemeinschaften der Welt, und seine Einwohner erlebten, was es bedeutet, wenn sich viele Menschen für längere Zeit an einem Ort versammeln», so Larsen.
Aufgrund des hohen Getreideanteils bei der Ernährung kam es bei den Bewohnern zu typischen Zivilisationskrankheiten, vor allem Karies: 10 bis 13 Prozent aller gefundenen Zähne von Erwachsenen wiesen Schäden durch Zahnfäule auf, wie die Forscher in ihrer im Fachjournal «Pnas» veröffentlichten Studie berichten. Zudem zeigten Veränderungen an den Beinknochen, dass die Bewohner Çatalhöyüks im Laufe der Zeit – parallel zum Wachstum der Siedlung – immer weitere Strecken zu Fuss zurückgelegt haben mussten.
Die Archäologen sehen darin ein Indiz, dass die Weide- und Ackerflächen in der Nähe zusehends übernutzt wurden. «Wir glauben, dass die landwirtschaftlich ausgelaugte Umgebung und Klimaveränderungen die Bevölkerung dazu zwangen, immer weitere Strecken zurückzulegen, um die Siedlung versorgen zu können», stellt Larsen fest.
Das enge Zusammenleben – sowohl von Menschen untereinander als auch mit Tieren – begünstigte ausserdem die Verbreitung von Krankheiten. Innenwände und Böden der Häuser waren mit menschlichen und tierischen Fäkalien verunreinigt; Tierställe und Müllgruben befanden sich direkt neben den Häusern. Rund ein Drittel der untersuchten Knochen wies denn auch Anzeichen für Infektionen auf.
Auch für ein harmonisches Zusammenleben waren die Umstände in Çatalhöyük nicht eben förderlich, wie die Untersuchungen der Forscher an einer Stichprobe von 93 Schädeln aus einem Zeitraum von insgesamt 1000 Jahren zeigen. Mehr als ein Viertel der Schädel wies Spuren von geheilten Frakturen auf, zwölf davon sogar mehrere. Mehr als die Hälfte der Opfer waren Frauen. Die Mehrzahl der Verletzungen – sie waren von harten, runden Gegenständen verursacht worden – befand sich am Hinterkopf; die Opfer waren daher vermutlich von hinten angegriffen worden.
Es scheint zudem, dass die Gewalt intensiver wurde, als die Siedlung wuchs. «Wir fanden eine Zunahme dieser Schädelverletzungen während der mittleren Periode, als die Bevölkerung am grössten und am dichtesten war», stellt Larsen fest. «Somit könnte man interpretieren, dass die Überbevölkerung zu erhöhtem Stress und zu Konflikten innerhalb der Siedlung geführt hat.»
Das Beispiel von Çatalhöyük zeige uns die Ursprünge von Faktoren, die noch immer das Leben in unseren heutigen Gemeinschaften prägen, sagte Larsen. «Mit vielen der Herausforderungen unserer Zeit waren offenbar auch schon die Menschen in Çatalhöyük konfrontiert. Aber unsere heutigen Probleme haben grössere Dimensionen.»
(dhr)