Das Sinnlose provoziert am zuverlässigsten. Das haben schon die Anarchisten und Dadaisten gewusst, die damit gesellschaftliche Missstände oder den Krieg bekämpfen wollten. Das weiss auch die 32-jährige Gemeinderätin, Operation-Libero-Chefin und PR-Fachfrau Sanija Ameti. Sie schoss mit einer Pistole auf ein Jesus-und-Maria-Bild und postete die Performance auf Instagram.
Damit löste sie einen Shitstorm aus, gegen den die fundierte Kritik in den meisten Medien wenig ausrichten konnte. Rasend schnell öffnete sich der Abgrund von Vernichtungsfantasien, gar Morddrohungen. Ein digitaler Mob gibt sie seither zum Abschuss frei. Inzwischen steht Ameti unter Polizeischutz. Zudem ist sie ihren Job in der PR-Agentur los. Ihre grünliberale Partei hat ein Ausschlussverfahren initiiert.
Im Fall Sanija Ameti ist alles auf höchst irritierende Weise irrational: ihre Aktion, mit der sie religiöse Gefühle verletzt hat, ebenso die Mehrzahl der äusserst dumpfen Reaktionen darauf, vor allem in sozialen Medien. Ein stupider Aufreger genügte, um eine Empörungslawine loszutreten.
Vor kurzem schon sorgte sich die Schriftstellerin Eva Menasse in einem Buch um die «Erosion und Brutalisierung des öffentlichen Diskurses». In der digitalen Sphäre, so Menasse, «dringt das Krasse, Übertriebe, das am meisten Kontroverse am stärksten durch». Die Empörung sei das Gefühl, das die Menschen an ihren Geräten hält. So weit, so schlecht.
Andererseits tut es jeder Gesellschaft gut, wenn sie herausgefordert und zwischendurch auch provoziert wird. Nur durch Konflikte und Streit kommen wir im Leben voran. «Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine», sagte einst der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt.
Doch wie soll gestritten werden? Nur konstruktiv, sodass man die Gegenseite nicht verletzt und am Schluss einen Konsens erreicht? Das würden wohl viele unterschreiben. Einspruch dagegen erhob schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs der britische Schriftsteller George Orwell. Er warnte davor, Streit und Kritik nur «in einem rosigen Spiegel» zu dulden, wenn sie dem eigenen politischen Lager passen. Das führe schnell wieder zu totalitärem Denken, bei dem unliebsame Kritik unterdrückt wird.
Orwells Verständnis von Kritik hat in der digitalen Ära viele Jünger. Darauf berufen sich Rechte wie Linke, auch Putin- und Hamas-Versteher, selbst ehemalige Coronaskeptiker, wenn sie beklagen, dass sie vom arroganten «Establishment» oder von «Systemmedien» totgeschwiegen würden, weil sie unbequeme «Wahrheiten» äussern. Umso vehementer verschaffen sie sich auf Demos oder in sozialen Medien Gehör. Das Problem ist, dass manche – im Gegensatz zu Orwell – nicht mehr zwischen Wahrheit und Ideologie oder Fake News unterscheiden können.
Lässt sich überhaupt noch ohne Scheuklappen streiten, kritisieren, provozieren, ohne Applaus von der falschen Seite zu riskieren, und ohne dass am Schluss purer Hate Speech triumphiert? In diesen Tagen erscheinen gleich zwei Bücher, die sich mit dem Streiten auseinandersetzen und der Frage nachgehen, warum Debatten heute oft defekt sind.
Die eine Schrift kommt von der streiterprobten deutschen Philosophin Svenja Flasspöhler. Berühmt-berüchtigt ist die 49-Jährige wegen ihrer provokativen Kritik an der MeToo-Bewegung, formuliert in ihrem Bestseller «Die potente Frau». Man hat sie schon als «AfD-Maulwurf» beschimpft, weil sie auch den Dialog mit Denkern und Politikern der Rechten sucht.
Während manche besonders seit der Coronakrise ein aggressiveres Debattenklima beklagen und nur noch den geordneten Rückzug aus den sozialen Medien empfehlen, tritt Flasspöhler in ihrem neuen Buch «Streiten» für mehr Zoff ein, durchaus nicht nur politisch, sondern auch privat.
Sie gehört zu denjenigen Intellektuellen, die alarmiert sind, wenn sich alle einig sind. Meist sei dann etwas faul. Sie ist überzeugt, dass es jeder offenen Gesellschaft guttut, wenn manchmal argumentatives Dynamit zum Einsatz kommt. Das breche verkrustete Debatten auf und ermögliche einen differenzierteren Blick.
Einschneidende Grosskrisen wie die Coronapandemie hätten aber neue Empfindlichkeiten hervorgebracht und die Art, wie wir miteinander debattieren, verändert. Rechte Kräfte, so Svenja Flasspöhler, reagieren sensibler auf gesellschaftliche Veränderungen in Zusammenhang mit Geflüchteten oder bei allem, was mit Wokeness und Gendern zu tun hat.
Linke sind dünnhäutig beim Klima oder bei der Rolle von Israel im Nahost-Konflikt. Sofort fühlt man sich persönlich angegriffen und verletzt und reagiert entsprechend heftig. Das Verletztsein, meint Flasspöhler, werde heute gerne als «rhetorische Waffe» eingesetzt, «um eine argumentative Unterlegenheit» zu kaschieren.
Der berühmteste deutsche Denker der Gegenwart, Jürgen Habermas, geht noch von einem vernunftgeleiteten, herrschaftsfreien Kommunikationsideal aus, bei dem Debattierende zu Perspektivenwechseln fähig und zur «gemeinsamen Überwindung ihres Egoismus» bereit sind, sodass sich das vernünftigste Argument durchsetzt.
Wer dazu nicht in der Lage ist und bloss Fundamentalopposition betreibt, wie die AfD, hat für Habermas keinen Platz am Tisch. Anstatt mit «dieser unsäglichen Truppe» zu streiten, plädiert er dafür, dem Rechtspopulismus durch entschiedene Ignoranz das Wasser abzugraben.
Für Svenja Flasspöhler ist das gerade ein «Kernproblem» heutiger Debatten: Man spreche der Gegenseite ab, vernünftig zu sein und schliesst sie aus. Sie aber will wissen, wie die AfD tickt. Wer auch diese Partei verstehen wolle, legitimiere damit noch nicht ihre Ansichten. Aber man bleibt wenigstens in Verbindung. Gerade weil Flasspöhler schlicht nicht begreift, wie die Rechtspopulisten die Welt so sehen können, wie sie sie sehen, will sie ihnen im Streit beweisen, dass sie eine bessere Weltsicht hat.
Das öffentliche Streiten funktioniere wie ein sportlicher Wettkampf, bei dem man den Gegner schlagen möchte. Ein paar Regeln müssen aber auch für Flasspöhler eingehalten werden. Man darf einander nicht notorisch anlügen oder lauter Falschbehauptungen herausschleudern oder einander existenziell bedrohen. Davon abgesehen soll man aber nicht zimperlich sein. Die Positionen dürfen für Flasspöhler ruhig «unversöhnt bleiben». Wer streitet, messe sich mit einem Gegner. Konsensdenken ist da, anders als in einer gepflegten Diskussion unter Freunden, fehl am Platz
Sie warnt vor «Überreaktionen», bloss weil man «den Umgang des Gegners mit Migration, Pandemien oder Angriffskriegen» für falsch hält. «Nicht jedes Denken, das den eigenen Vorstellungen von Vernunft widerspricht, ist gleich ein ‹Saatboden› für einen neuen Faschismus. Nur wenn ein Streit total zu eskalieren droht, rät Flasspöhler, lieber einmal den Mund zu halten. Sonst ist strategische Zurückhaltung nicht ihre Sache. Wer sich wegduckt und keine Angriffsfläche bieten will und wer nur andere machen lässt, verhalte sich «nah an der Feigheit».
Doch die Frage bleibt: Warum soll man sich mit unbelehrbaren Überzeugungstätern fetzen? Svenja Flasspöhler gibt als Grund an, sie wolle partout nicht akzeptieren, «dass die Welt in Freund und Feind auseinanderfällt». Zu streiten, heisse, «ein Gegenüber nicht kalt als Feind abzustempeln», sondern die Mühen der Argumentation auf sich zu nehmen. «Wer Feindschaft verhindern will, muss Gegnerschaft zulassen», sagt sie. Ihre Losung heisst: «Leben und leben lassen» – zumindest solange der Gegner «meine eigene Existenz nicht gefährdet». Das soziale Band dürfe nicht zerreissen.
Weniger dezidiert, dafür faktenreicher ist das Buch «Defekte Debatten – warum wir als Gesellschaft besser streiten müssen» von Julia Reuschenbach und Korbinian Frenzel. Ausführlich gehen sie auf mögliche Herausforderungen in heutigen Debatten ein, etwa das Erstarken populistischer Kräfte auf rechter wie linker Seite oder auf den Bekenntniszwang im Internet. Social Media sei diesbezüglich ein «Monster, das ständig gefüttert werden muss».
Und das sind einige gewiss nicht unstrittige Tipps von Reuschenbach und Frenzel, um weniger aufgeheizte Kontroversen zu erreichen:
Zudem raten Reuschenbach und Frenzel, eine Zeitverzögerung beim Posten von Kommentaren zu installieren. Nach wenigen Minuten würde der geschriebene Kommentar nochmals vorgelegt mit der Prüffrage: «Wollen Sie wirklich, dass dieser Post online geht?» Vielleicht hätte Sanija Ameti ihren Schiess-Post dann nicht abgeschickt, und eine unsägliche Kontroverse wäre uns erspart geblieben. (aargauerzeitung.ch)
Svenja Flasspöhler: Streiten. Hanser Berlin, 128 Seiten.
Julia Reuschenbach/Korbinian Frenzel: Defekte Debatten. Warum wir als Gesellschaft besser streiten müssen. Suhrkamp Nova, 319 Seiten.
Und zu dem thema, wer so provoziert muss mit den konsequenzen leben. Sogar den donald scheint ja jetzt seine rechnung zu kriegen.