Es waren Findlinge, die wesentlich zur Gründung eines Nationalparks beigetragen haben. Diese Findlinge, überdimensionierte Felsbrocken, galten als Zeugnisse der Entstehung des Alpenraums. Anfangs 20. Jahrhunderts sind sie akut von der Zerstörung bedroht. Denn sie stehen im Weg, versperren wichtige Bauprojekte.
Ein besonders mächtiges Exemplar, der Pierre des Marmettes bei Monthey, steht kurz vor dem Abbau, als die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft zu einer Rettungsaktion aufruft. Als Reaktion darauf gründet sie eine Kommission, die nicht nur den Naturschutz, sondern auch die Nationalparkidee entscheidend voranbringt.
Die Zeit ist reif, denn der Wald und die Natur insgesamt in der Schweiz (wie in ganz Europa) ist übernutzt, gerodet und in einem schlechten Zustand. Grosse Kahlflächen, Ausrottung des Wildbestandes und massive Dezimierung der Laubbäume sind sichtbar. Dem Druck durch die infolge der Industrialisierung stark wachsende Bevölkerung kann der Wald nicht mehr standhalten.
Modernisierungsprojekte wie die Kanalisierung und die Begradigung der Flüsse, der Ausbau des Strassennetzes und vor allem der Kahlschlag der Gebirgswälder drängen Tiere und Pflanzen zurück. Der letzte Luchs wird 1876 gesichtet, als die Steinböcke längst verschwunden sind und auch der Wolf nur noch als Grenzgänger anzutreffen ist.
Gleichzeitig aber werden die Alpen zum Wahrzeichen der Schweiz und Inbegriff der Heimatliebe. Die Verklärung der Alpen gehört geradezu zum touristischen Mantra. Immer beliebter werden bei ausländischen Gästen Bergferien – Sommer wie Winters. Und diese Landschaft, die die Schweiz so attraktiv macht, gilt es zu schützen.
Die Naturschutz-Bewegung ist international bereits in vollem Gange. In dieser Zeit formieren sich in Europa, Nordamerika und in den europäischen Kolonialgebieten Vereinigungen, die sich die Bewahrung der Natur auf ihre Fahnen schreiben. Vorausgegangen ist 1872 die Gründung des Yellowstone Parks, der als «recreation area» die Naturwunder, die Geysire und die Wasserfälle dem Publikum zugänglich machen soll.
Und nun erreicht die Umweltbewegung der ersten Stunde auch die Schweiz – augenfällig sind die Schäden beispielsweise im Unterengadin, wo Steivan Brunies (1877–1953) herkommt. Der Botaniker, der als Gymnasiallehrer in Basel tätig war, kennt das Unterengadin wie seine eigene Westentasche. Zusammen mit Paul Sarasin (1856–1929), dem Basler Gelehrten, der zuvor zusammen mit seinem Cousin Fritz Sarasin in den Kolonialgebieten Ceylon und Celebes anthropologischen, geografischen und geologischen Forschungen nachgingen, erküren sie das Gebiet um die Val Cluozza, um dort ihre Idee von einer unberührten Ur-Landschaft umzusetzen.
Sie wollen der fortschreitenden zivilisatorischen Bedrohung und Zerstörung Einhalt gebieten und «die alpine Urnatur wiederherstellen». Gerade in städtischen grossbürgerlichen Kreisen finden sie dafür eine grosse Anhängerschaft – auf deutlich weniger Begeisterung stösst die Idee bei der vorwiegend bäuerlichen Bevölkerung im Gebiet. Sie fürchten um ihre Weide- und Bergbaugebiete.
1906 wird Paul Sarasin der erste Präsident der neuen Naturschutzkommission, dem Schweizerischen Bund für Naturschutz, der, um die Pachtzinsen zu finanzieren, einen Franken ihrer Mitgliederbeiträge dem Nationalpark entrichtet. Doch Sarasin, seit 1896 wieder zurück in der Schweiz, engagiert sich nicht nur für den Nationalpark, sondern auch für einen globalen Naturschutz. Er sieht das Naturparadies der Erde durch den Menschen zerstört. Zwar selbst ein Profiteur der kolonialen Strukturen und beteiligt an Rassenforschung, hält er fest: «… Der weisse Mensch ist das Verderben der Schöpfung, er ist der Verwüster des Paradieses auf Erde…». Seine Sehnsucht nach dem Urtümlichen und einem paradiesischen Zustand ist indes romantischer Natur.
Zugleich ist es aber auch ein kolonialer Habitus: Trotz seiner Kritik am Kolonialismus spielt er dem weissen Mann paradoxerweise die Rolle zu, über das «Naturparadies» zu wachen und es zu beschützen. Und so gründet Sarasin den Weltnaturschutz Bund, der 1913 zum ersten Mal in Bern tagt – unter der Schirmherrschaft des Bundesrates. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs jedoch kommen alle Bemühungen jäh zum Erliegen. Nicht aber die Bemühungen um den Nationalpark, der breite Zustimmung erfährt.
1913 besucht eine parlamentarische Kommission das Gebiet der Val Cluozza und setzt sich danach mit grossem Enthusiasmus im Bundesbern für den Nationalpark ein. Einzig die Sozialdemokraten haben Mühe mit der Vorlage, resp. mit der Finanzierung: zu wichtig und zu drängend seien die sozialen Probleme. Sie unterliegen jedoch im Rat und der Gründung eines Schweizerischen Nationalparks steht nichts mehr im Wege.
Am 1. August 1914 wird der erste Nationalpark Mitteleuropas feierlich eröffnet. Und ist fortan ein naturbelassenes Wildnisgebiet, das dem Zugriff der Menschen entzogen und in dem sich Flora und Fauna langfristig entfalten können.
Das Ökosystem steht dabei unter genauer Beobachtung, denn eine der wichtigsten Aufgaben des Parks ist die Forschung – und diese stellt zwar fest, dass die Artenvielfalt und die Zahl der Huftiere zugenommen haben, dennoch sind 100 Jahre eine zu kurze Zeit, um die Spuren menschlicher Nutzungen zu tilgen.
Der Nationalpark aber erfreut sich zunehmender Beliebtheit: Mittlerweile kommen jährlich über 120'000 Besuchende, um zu wandern und Tiere zu beobachten. Da die Wege nicht verlassen werden dürfen, haben sich die Tiere an den Menschen gewöhnt und mit etwas Glück erblickt man selbst den Steinbock. Und dies ist keine Selbstverständlichkeit, denn erst 1921 wurden Jungtiere auf verschlungenen Pfaden wieder hier angesiedelt.