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Der Schutz­raum – ein helveti­sches Phänomen

Screenshot aus dem Informationsfilm des Bundesamts für Zivilschutz «Das Leben im Schutzraum», 1984.
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Videostill aus dem Informationsfilm des Bundesamts für Zivilschutz «Das Leben im Schutzraum», 1984.Screenshot: Condor Documentaries Zürich / VBS

Der Schutz­raum – ein helveti­sches Phänomen

Unter den Einfamilienhäusern, Wohnblöcken und öffentlichen Anlagen der Schweiz verstecken sich rund 360'000 Schutzräume für den Kriegsfall. Die Schutzbauten, die heute als Weinkeller, Hobbyräume oder Rumpelkammern genutzt werden, entstanden mehrheitlich während des Kalten Kriegs.
17.04.2022, 20:14
Jost Auf der Maur / Schweizerisches Nationalmuseum
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Seit dem 24. Februar 2022 fallen in Europa wieder Bomben, nicht nur auf militärische Anlagen der Ukraine, sondern auch auf ungeschützte Wohnhäuser in Millionenstädten. Bilder von Menschen, die in U-Bahnstationen der Hauptstadt Kiew Schutz suchen, gehen um die Welt. Das erinnert wahrscheinlich viele in der Schweiz daran, dass hierzulande für die Zivilbevölkerung spezielle Schutzräume vorhanden sind. Das ist selbstverständlich kein Zufall, das ist so gewollt.

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Am 24. Mai 1959 sagte eine Mehrheit (62,3 %) stimmberechtigter Schweizer Männer Ja zu einem Zivilschutzartikel in der Bundesverfassung. Zu verstehen ist diese politische Vorlage vor dem historischen Hintergrund: Der Zweite Weltkrieg mit seinen Flächenbombardements und der Einsatz von zwei Atombomben gegen Japan hatten der Bevölkerung die Folgen drastisch aufgezeigt. Innerhalb von 20 Jahren nach diesem Weltkrieg bauten zudem die USA, die Sowjetunion, Grossbritannien, Frankreich und China ihr Arsenal an Atomwaffen auf.

In der Schweiz waren darum einige «Falken» unter den Militärs und Politikern der Ansicht, die richtige Antwort darauf sei es, die Armee ebenfalls atomar auszurüsten. Bundesrat Karl Kobelt hatte dazu 1946 den geheimen Auftrag erteilt: «Schaffung einer schweizerischen Uran-Bombe oder anderer geeigneter Kriegsmittel, die auf dem Prinzip der Atomenergie-Verwendung beruhen.» Soweit ist es nicht gekommen. Dagegen wurde der Bau von Schutzplätzen eifrig verfolgt. Der Zweck: Die Menschen und ihre Lebensgrundlagen «bei Schadenereignissen von grosser Tragweite, Katastrophen, Notlagen und bewaffneten Konflikten zu schützen». 1963 wird das Bundesamt für Zivilschutz (BZS) installiert.

Luftschutzraum in Muri bei Bern, 1968.
http://doi.org/10.3932/ethz-a-000984311
Luftschutzraum in Muri bei Bern, 1968.Bild: ETH-Bibliothek Zürich / Comet Photo AG

Die Ergebnisse mögen erstaunen: Für jede Einwohnerin und jeden Einwohner in der Schweiz ist heute ein geschützter Platz verfügbar. Rund 360’000 private unterirdische Schutzräume und etwa 2300 grosse öffentliche Schutzanlagen sind vorhanden. Inzwischen ist sogar – gemessen an der Bevölkerungszahl – ein Überangebot an Schutzraumplätzen entstanden. Dennoch ist die sogenannte Schutzraumpflicht für Hauseigentümer und Gemeinden nicht ersatzlos aufgehoben worden; in Ortschaften, wo es bereits genügend Schutzplätze gibt, wird eine Ersatzzahlung erhoben.

Gebaut wurden in der Schweiz auch unterirdische Spitäler mit mehr als 50’000 geschützte Krankenbetten. Männer und Frauen werden in Zivilschutz-Kursen trainiert. Selbstverständlich gelten umfangreiche «Technische Weisungen für den Pflichtschutzraumbau» (TWP). Das Motto: Einheitlich, solide, einfach, praktisch. Mit diesen Vorkehrungen steht die Schweiz weltweit (fast) alleine da; nur Schweden und der Stadtstaat Singapur können noch mithalten. Aneinandergereiht ergäben die oft im Tagebau entstandenen Schutzeinrichtungen der Schweiz einen Tunnel von schätzungsweise 1200 Kilometern Länge, eine Distanz von Zürich nach Algier. Der Zivilschutz ist eines der grossen nationalen Projekte des Landes, vergleichbar mit der AHV (Alters- und Hinterlassenenversicherung), dem Nationalstrassennetz oder der Eisenbahn.

Viele Menschen in der Schweiz kennen die privaten Schutzräume im Keller wenigstens von der Anmutung her, zu den augenfälligen Einrichtungen gehören die extra dicken Eisenbetonmauern, die 500 Kilogramm schweren Türen und deren wuchtige Handgriffe zur gasdichten Verriegelung, die metallenen Explosionsschutzventile, der Notausstieg, eventuell die Schachtel mit dem Trockenklosett. Nicht fehlen darf die Handfilterpumpe, an der im Ernstfall schweisstreibende Kurbelarbeit zu verrichten wäre – die Atemluft soll damit von unerwünschten chemischen und biologischen Partikeln gereinigt werden.

Die meisten der Schutzräume stehen nicht leer, sondern werden als Weinkeller, Hobbyräume oder Rumpelkammern genutzt. Als am 1. November 1986 in Schweizerhalle bei Basel brennende Agro-Chemikalien eine Giftwolke über der Stadt entwickelten und die Menschen zuhause bleiben mussten, waren die Schutzräume nicht bezugsbereit.

Angehörige des Zivilschutz kontrollieren einen Schutzraum, 2011.
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Angehörige des Zivilschutzes kontrollieren einen Schutzraum, 2011.Bild: Clemens Laub / VBS

Zu den Lebensgrundlagen einer intakten Zivilgesellschaft gehört die kulturelle Identität. Darum sollen auch Kulturgüter geschützt werden; die Schweiz ist 1962 dem «Haager Abkommen für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten» beigetreten. Tief im Untergrund von Heimiswil im Emmental ist darum ein nationales Gedächtnis eingerichtet worden. Kulturgüter zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie – im Gegensatz zu elektronischen Daten, Gold und Geld – einzigartig und unersetzlich sind.

Im Falle ihrer Zerstörung sollen diese Kulturgüter wenigstens originalgetreu rekonstruierbar bleiben, ob es sich dabei um Bauten, Dokumente oder Kunstgegenstände handelt. Für die Archivierung werden die entsprechenden Angaben auf Silbersalz-Mikrofilmen gesichert, in Stahlbehältern versorgt und in Containern bei 10 Grad Celsius und 35 % Luftfeuchtigkeit aufbewahrt. Das verspricht eine Lagersicherheit von 500 Jahren.

Neben dem Mikrofilmarchiv in Heimiswil steht der Kulturgüterschutzraum in Hausen am Albis, eine ehemalige Militäranlage, im Ernstfall für die Einlagerung von Kulturgütern des Bundes bereit.
Neben dem Mikrofilmarchiv in Heimiswil steht der Kulturgüterschutzraum in Hausen am Albis, eine ehemalige Militäranlage, im Ernstfall für die Einlagerung von Kulturgütern des Bundes bereit. Bild: Schweizerisches Nationalmuseum

Die Erfüllung der Schutzbedürfnisse rief aber auch wunderliche Ergebnisse hervor. Ein Beispiel dafür ist die Bunkerstadt Sonnenberg bei Luzern, in der 20’000 Menschen Schutz vor einem 3. Weltkrieg hätten finden sollen. Allein, die Techniker und Ingenieure haben dabei einfache Gegebenheiten des menschlichen Alltags nicht beachtet, die Bunkerstadt – heute ein gern besuchtes Denkmal des Kalten Kriegs – erfüllt den vorgesehenen Zweck nicht.

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Der Schutz­raum – ein helveti­sches Phänomen
Blick in eine grössere Zivilschutzanlage in Berneck: Schlafraum. (bild: wikimedia/kecko)
quelle: wikimedia/kecko
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Die Schweiz ist mit ihrem voll ausgebauten unterirdischen Zivilschutz weltweit ein Phänomen. Die Möglichkeit zur Flucht in der Vertikalen ist demokratisch vereinbart worden und scheint einer nationalen Mentalität zu entsprechen. In anderen Ländern werden die vielen Milliarden für die kostenlose medizinische Versorgung verwendet.

Wieder andere verwenden das Geld, um sich indirekt Zeit zu kaufen, anstatt sich in Sorge um eine ungewisse Zukunft dicke Betondecken über die Köpfe zu ziehen. Friedrich Dürrenmatt schrieb mit spitzer Feder: «Der Schweizer ist ein vorsintflutliches Wesen in Erwartung der Sintflut.» Wir haben jedenfalls das gewählt, was uns entspricht.

Die Schweiz unter Tag (Buchcover, Echtzeit-Verlag)
Die Schweiz unter Tag
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Schatzkammern, Wasserkraftwerke, Hightechlabors, Spitäler, Verkehrstunnel, der Bundesratsbunker und geheime Kavernen: Die unterirdische Schweiz ist strahlend und kurios. Jost Auf der Maur hat sich in diese Unterwelt begeben, von der viele eine Ahnung haben, aber kaum jemand Genaues weiss. Sein Bericht deckt auf und reisst mit. Ein Service-Teil gibt Auskunft über Führungen und Besichtigungen. Das erste Buch über das weite Land unter der Schweiz.
>>> Weitere historische Artikel auf: blog.nationalmuseum.ch
watson übernimmt in loser Folge ausgesuchte Perlen aus dem Blog des Nationalmuseums. Der Beitrag «Der Schutz­raum – ein helveti­sches Phänomen» erschien am 11. April.
blog.nationalmuseum.ch/2022/04/der-schutzraum-ein-helvetisches-phaenomen

Nirgendwo gibt es so viele Bunkerplätze pro Kopf wie bei uns

Video: srf/Roberto Krone
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quelle: x90184 / arnd wiegmann
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Coronavirus: Schweizweit 4500 bis 5500 Zivilschützer täglich im Einsatz
Video: srf
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56 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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BG1984
17.04.2022 20:53registriert August 2021
Ich hoffe mal, dass jost auf der maur nie einen Platz in einer Zivilschutzanlage benötigt. Ein solch uninformierter und negativer Artikel kann nur von einem Banausen geschrieben werden, der selbst nie im Zivilschutz war oder dort rausgeworfen wurde. Der Zivilschutz leistet viel mehr als die wichtigen Kontrollen und dem Kulturgüterschutz. Der Zivilschutz hilft Ihnen den überschwemmten Keller auszuräumen, sie aus Ihrem Haus zu evakuieren, das Führungsorgan in organisatorischen, Lagetechnischen ubd in der Kommunikation zu unterstützen und Opfer oder evakuierte zu betreuen.
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7immi
17.04.2022 23:17registriert April 2014
Das mit der Atombombe stimmt so nicht. Die UDSSR plante, alle Länder anzugreifen, die keine Atombombe hatten ("Sieben Tage bis zum Rhein"). Daher der Plan des Bundesrates / Armee. Es war eine Antwort zum Selbstschutz, man hatte schliesslich auch das nötige Wissen. Diese Kontext finde ich wichtig und zeigt auch, wie angespannt die Lage damals war.
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Hierundjetzt
17.04.2022 22:25registriert Mai 2015
Fun Fact: Im 2013 wurde das Obligatorium, ein Zivilschutzkeller in jedem Neubau einzubauen, verlängert.
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